die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1980
Text # 304
Autor Nigel Williams
Theater
Titel Sugar and Spice
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Bill Alexander
Uraufführung
Sendeinfo 1980.10.10/SRG Basel 1980.10.13/SWF Kultur aktuell/RB/ORF Wien

“Woraus sind kleine Mädchen gemacht?“, fragt ein bekannter englischer Kindervers und gibt dann die Antwort: “Of sugar and spice and all things nice” (aus Zucker und Gewürzen und lauter schönen Sachen). Das Stück ‘Sugar and Spice’ von Nigel Williams demonstriert auf sehr drastische Weise, daß die kleinen Mädchen heute der idyllischen Vorstellung, die sie süß und herzig haben möchte, nicht mehr entsprechen. Die neue Generation der Rocker, Punks und Mods, die ihren Protest gegen die Welt der sittsamen Bürger durch grelle Maskierung zum Ausdruck bringt – die neue Form der Selbstverstümmelung, deren gewaltsame Posen kaum noch die Lust an der Verletzung der Tabus, doch allzu deutlich Züge von Verzweiflung erkennen lassen – hat eine weibliche Variante, die es mit der männlichen in jeder denkbaren Hinsicht aufnehmen kann.

Steve, ein junger Bursche, der einer Gruppe von weiblichen Punkies in die Wohnung eines alternden Fotomodells gefolgt ist, findet sich plötzlich in einer Lage, in der er jeder sadistischen Laune der Mädchen nachgeben muß und schließlich nackt, gedemütigt, als Mann verhöhnt und schamlos provoziert nur durch den Auftritt zweier Genossen, die sich gewaltsam Zugang verschaffen, vor Schlimmerem bewahrt wird. Die männliche Verstärkung sorgt dafür, daß das Machtverhältnis sich umkehrt. Als Akt der Vergeltung fordert der Anführer, daß Carol, das Mädchen, für das sich Steve vor allem interessiert, sich ebenfalls auszieht, eine Aufforderung, der Carol anfangs mit sichtlichem Vergnügen, später widerstrebend nachkommt.

Wie zuvor Sharon, die im ersten Akt als dominierende Figur unter den Mädchen das große Wort führt, ihr männliches Opfer mit dem Stumpf einer zerschlagenen Flasche bedroht und eine haßerfüllte Schmährede an Steves Penis gerichtet hatte, so muß sich nun Carol nackt und ebenso hilflos in gleicher Lage einer aus mühsam verdrängtem Begehren, Angst, Wut und Verzweiflung gemischten Anklagerede an die Attribute ihrer Weiblichkeit gefallen lassen, auf derem schrecklichen Höhepunkt sich Steve schützend dazwischen drängt, zum Zweikampf herausgefordert und tödlich verletzt wird.

Das Thema wie die Art seiner Aufbereitung erinnern an Nigel Williams’ grandioses, 1978 im selben Haus uraufgeführtes Stück ‘Class Enemy’ (Klassenfeind) über eine Schülerrevolte in einer Südlondoner Gesamtschule. Die seelische Not jener Horde verwahrloster, brutalisierter Halbstarker in Schuluniform, die nach Führung und Anleitung lechzen und die autoritäre Welt der Erwachsenen noch ärger hassen als sich selbst, Produkte einer Gesellschaft, die mit den Kindern der Großstadtslums nichts anzufangen weiß, die nicht versteht, daß ihre Gewaltsamkeiten Ausdruck schierer Verzweiflung sind – die seelische Not der frustrierten Schüler ähnelt dem Männer verachtenden Pessimismus Sharons und der selbstzerstörerischen Wut des Bandenführers John in ‘Sugar and Spice’. Ihre Sprache ist derselbe, manchmal kaum mehr verständliche, von Kraftausdrücken und Flüchen des Süd- bis Südwestlondoner Proletariats gespickte Jargon der großstädtischen Jugendlichen, wobei die Klischeehaftigkeit im sprachlichen Ausdruck hier bis zur Selbstparodie übertrieben wird. Kraftausdrücke, die die Funktion gesprochener Ausrufezeichen haben und gedankenlos mechanisch in den Redefluß eingeschaltet werden, wirken, wenn man sie wörtlich nimmt, überaus komisch und lächerlich.

Bill Alexanders Inszenierung hat viel dramatische Spannung; sie versteht es, ihr Publikum zu packen. Was dem neuen Stück jedoch trotz allem mangelt, ist die an ‘Class Enemy’ seinerzeit so bewunderte methodisch variierende Durchführung des Themas und jene Art der Charakterisierung, die durch genügend Hinweise auf den persönlichen Hintergrund eines jeden auch die extremsten Vorgänge wirklich glaubhaft macht.

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