die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1976
Text # 101
Autor Christopher Marlowe
Theater
Titel Tamburlaine the Great
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Hall
Hauptdarsteller Albert Finney
Neuinszenierung
Sendeinfo 1976.10.04/SR - Tel. Bericht, teilweise 1976.10.05/SWF Kultur aktuell 1976.10.06/DLF 1976/10.08/WDR/ Nachdruck: Darmstädter Echo

Das neue Olivier Theatre, das soeben mit Peter Halls Inszenierung von Marlowes Stück ‘Tamerlan der Große’ eröffnet wurde, ist – um das gleich zu sagen – ein wunderschönes Theater. Mit seiner offenen Bühne und amphitheatralisch angeordneten Sitzreihen, die 1160 Zuschauern Platz bieten, ist es das Kernstück des neuen Nationaltheaterkomplexes, zu dem insgesamt drei Spielstätten gehören werden, wenn das kleine Cottlesloe Theatre als Studiobühne Anfang des nächsten Jahres in Betrieb genommen wird.

Rund 120 Jahre haben die Briten darauf warten müssen, bis aus dem Vorschlag eines Londoner Verlegers zur Gründung eines repräsentativen Theaters der Nation Wirklichkeit wurde. 1963 war es dann soweit: Unter der Leitung von Laurence Olivier zog das Ensemble des sogenannten “exemplarischen Theaters” vorübergehend d.h. bis zur Fertigstellung des geplanten Neubaus, in das traditionsreiche Old Vic Theatre ein, von wo es im März dieses Jahres in sein neues Heim am Südufer der Themse – neben Royal Festival Hall, Queen Elizabeth Hall, Hayward Gallery und National Film Theatre – übersiedelte, als die erste der drei Bühnen, die des Lyttleton Theatre, bespielbar geworden war. Auf eine feierliche Eröffnung wurde zunächst verzichtet; Königin Elisabeth soll das immer noch unvollendete Haus, an dem nun seit acht Jahren gebaut wird, am 25. Oktober dieses Jahres in einem Festakt einweihen.

Peter Hall, der nach dem Ausscheiden von Laurence Olivier die Intendanz des Nationaltheaters übernahm, hat das Ensemble erweitert und damit begonnen, den Stil des Hauses zu modifizieren. Seine eigenen Talente liegen unter anderem im Organisatorischen und bei der Fähigkeit, einige der bedeutendsten Theaterleute des Landes und weniger bekannte jüngere Kräfte zusammenzuziehen und mit ihnen sorgfältig erarbeitete Inszenierungen herzustellen, die klar und übersichtlich gegliedert sind, auf szenischen Aufwand verzichten, sich stattdessen der raffinierten technischen Möglichkeiten des neuen Bühnenapparates bedienen, in Sprache und Darstellung sehr kontrolliert, verhalten, zuweilen geradezu kühl erscheinen und dennoch grandios theatralisch wirken.

Seine neue Inszenierung des Marloweschen ‘Tamburlaine’, ein kolossales Werk in zwei Teilen, das hier fast ungekürzt in einer Viereinhalb-Stunden-Fassung dargeboten wird, enthält sich jeder moralischen Wertung über den als unaufhaltsam angenommenen Aufstieg des skytischen Hirten Tamerlan zum König der Perser, Kaiser der Türken, Herrscher über ganz Asien, Afrika und halb Europa, den Aufstieg eines Mannes, der sich selbst ‘die Geisel Gottes’ nennt, mit unvorstellbarer Härte und Grausamkeit seinen Weg zur Weltherrschaft sucht aus dem unbedingten Willen zur Macht, ein titanischer Geist, der an den Grundfesten von Himmel und Erde rüttelt, doch am Ende wie jeder andere sterben muß.

Albert Finney, der zusehends an schauspielerischer Reife und künstlerischem Format im neuen Nationaltheaterensemble gewinnt, hat hier die Rolle, die für ihn geschrieben sein könnte. Mit der bäuererischen Kraft und Schläue, der Kaltblütigkeit, dem makabren Humor und seinem titanischen Eroberungsdrang wirkt dieser Tamerlan wie die Verkörperung der Renaissance-Idee von der Allmacht des Menschen, dem nur der Tod die Grenze setzen kann. Halls Inszenierung bietet das blutrünstige Stück als spektakuläres Theater, in dem der Gang der Weltgeschichte als fatal unausweichlich erscheint und auch die Größe der Grausamkeit noch Bewunderung erheischt , eine Bewunderung freilich, bei dir uns – beim Gedanken an die historische Nähe ähnlicher Monstrositäten – angst und bange werden muß.

Eine der besonderen Eigenschaften des neuen Olivier-Theaters ist die im Hinblick auf die Anzahl der Plätze wohl einzigartige Intimität des Raumes, in dem selbst die entfernt sitzenden Zuschauer das Gefühl haben, den Schauspielern nahe zu sein. Unbehinderte Sicht und ausgezeichnete Akustik auf allen Plätzen schaffen die so oft angestrebten, doch selten erfüllten idealen Bedingungen für den Zuschauer, der sich, wie immer wieder betont wird, im neuen Nationaltheater wirklich wohl fühlen soll.

Nach Oben