Das polnische Staatstheater Stary in Krakau genießt den Ruf, das Unmögliche zu versuchen. Nach der Dramatisierung von Dostojewskis großen Romanen ‘Raskolnikoff’ und ‘Brüder Karamasoff’ sowie Robert Musils ‘Mann ohne Eigenschaften’ hat das Ensemble unter der Leitung des Regisseurs Krystian Lupa in den späten neunziger Jahren vor allem mit der Bühnenbearbeitung der Romantrilogie ‘Die Schlafwandler’ von Hermann Broch staunende Bewunderung erregt.
Als der erste Teil der auf drei Abende angelegten Inszenierung nach jahrelanger Vorbereitung dem Publikum vorgestellt wurde, hatte man in Polen von dem österreichischen Autor Broch noch nie gehört. Es gab noch keine polnische Übersetzung des Buches; die in Lupas Inszenierung aufgenommenen Passagen hatte der Regisseur selbst übertragen.
Da die kurz nach ihrer Veröffentlichung 1932 von den Schotten Edwin und Willa Muir ins Englische übersetzte Romantrilogie erst 1986 ein zweites Mal im Druck erschien, in einer Ausgabe, die nun schon seit Jahren vergriffen ist, war der Name des selbst in Deutschland und Österreich kaum gelesenen Autors auch in Großbritannien bisher nur ganz wenigen bekannt.
So verdienstvoll es sein mag, die polnische Inszenierung nach Edinburg zu holen, um mit einem Werk bekanntzumachen, das die Verehrer Brochs zu den größten Romanen des 20. Jahrhunderts zählen und das, wie sie glauben, Vergleiche mit Kafka, Proust und Joyce nicht zu scheuen braucht, hätte der in Sachen Schauspieltheater stets sehr unsichere Festivaldirektor Brian McMaster eigentlich voraussehen müssen, daß sich ein britisches Publikum mit der Dramatisierung eines selbst unter normalen Umständen nicht gerade leicht lesbaren dreiteiligen Romans überfordert fühlen muß, wenn man es mit einer auf drei Abende ausgedehnten, insgesamt fast zwölf Stunden dauernden Aufführung in polnischer Sprache konfrontiert, die, wie sich herausstellt, sogar für einen, der den Originaltext kennt, ein Buch mit sieben Siegeln und vielen offenen Fragen bleibt.
Der 1886 in Wien geborene, 1951 in den USA verstorbene jüdische Autor Hermann Broch hat in den ‘Schlafwandlern’ nichts geringeres als ein Epochenporträt der Zeit zwischen 1888 und 1918, von den Gründerjahren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, zu geben versucht. Die Jahreszahlen 1888, 1903 und 1918 sollen drei historischen Entwicklungsphasen entsprechen, die Broch mit den vagen Untertiteln ‘Romantik’, ‘Anarchie’ und ‘Sachlichkeit’ benennt. Die drei Protagonisten – der preußische Junker Pasenow, der rheinische Kleinbürger Esch und der elsässische Geschäftemacher Huguenau – gelten als Verkörperung der drei Phasen einer geschichtlichen Entwicklung, die der Autor als Prozeß der Auflösung eines ethisch fundierten Weltbildes versteht, eines Zerfalls aller verpflichtenden Werte, “ohne die das Handeln der Menschen bewußtlos und zerstörerisch zu werden droht”; ein Prozeß, der faktisch in den Schrecken der Nazi-Diktatur kulminiert.
Krystian Lupas Dramatisierung konzentriert sich auf die beiden letzten Teile der Romantrilogie mit den Protagonisten Esch und Huguenau sowie der im Hintergrund dominierenden grauen Eminenz Bertrand, in dem man ein Alterego des Autors Broch zu erkennen glaubt. Der als Waise aufgewachsene Buchhalter August Esch ist unfähig, die eigenen anarchischen Impulse zu kontrollieren. Er empört sich darüber, daß einzelnen Menschen Unrecht geschieht, und lebt in dem Wahn, der wohlhabende Geschäftsmann Bertrand sei für alle Übel der Welt verantwortlich. Da Esch weder sich selbst noch seine Umwelt versteht, sucht er Zuflucht in verworren mystischer Religiosität.
Das Schwierigste sei gewesen, dem subjektiven Verfahren und der Simultaneität des vor allem im dritten Teil des Romans in zahlreiche Erzählstränge aufgelösten Textes zu folgen, erklärt der Regisseur. Während man am ersten Abend noch bewundern konnte, wie geschickt die komplexen Vorgänge der figurenreichen Geschichte verkürzt und in einleuchtenden szenischen Bildern, manchmal fast wortlos, sichtbar gemacht wurden, läßt Lupa die beiden folgenden Abende fast buchstäblich in mystischem Dunkel versinken.
Durch die Intensität der nur ab und zu ins Schrille umschlagenden Darstellung überträgt sich fast körperhaft die oppressive Atmosphäre der geistigen Verwirrung und des moralischen Zerfalls, so daß man am Ende selbst wie zerschlagen und betäubt aus dem Theater taumelt.
Mir fiel der bekannte Spruch des Philosophen ein: “Das Dunkel ist kein heiliger Hain”. Um subjektive Verworrenheit oder die Gefahr der Flucht in sektenhafte mystisch-religiöse Dunkelzonen chassidischer, katholischer oder pietistischer Konvenienz als solche begreifen zu können, genügt nicht die mystische Versenkung ins Anarchische, bis uns Hören und Sehen und alles Bewußtsein vergeht. Es bedarf auch des Lichts der Vernunft, des kritisch eingreifenden Gedankens, der geistige Konturen, also etwas wie Sinn erkennen läßt.