die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1997
Text # 291
Autor Samuel Beckett
Theater
Titel Waiting for Godot
Ensemble/Spielort Old Vic Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Hall
Hauptdarsteller Ben Kingsley/ Alan Howard/Denis Quilley/Greg Hicks
Neuinszenierung
Sendeinfo 1997.06.28/SWF Kultur aktuell/DLR/WDR

Anfang August 1955 brachte ein kleines Theater im Londoner Westend die englischsprachige Erstaufführung eines Stückes von einem unbekannten, in Paris lebenden irischen Autor. Die Kritiken, die am Tag nach der Premiere in den Zeitungen erschienen, waren vernichtend. Ein Kritiker meinte, das Stück sei einem normalen Publikum nicht zuzumuten. Der Eigentümer des Theaters beschloß, das zweifelhafte Produkt sofort wieder aus dem Verkehr zu ziehen.

Erst die Berichte, die man am folgenden Wochenende in den Londoner Sonntagszeitungen lesen konnte, bewahrten das Stück vor diesem Verhängnis und die Kritiker, die es fast dazu hätten kommen lassen, weil sie den Text nicht verstanden, vor der noch größeren Blamage. Die Inszenierung des damals 24-jährigen Regisseurs Peter Hall war plötzlich in aller Munde. Das umstrittene Stück wurde weltberühmt. Es hieß ‘Waiting for Godot’, sein Autor Samuel Beckett.

Für Peter Hall war es der Anfang einer Karriere, die ihn in den folgenden vier Jahrzehnten zur einflußreichsten Persönlichkeit des britischen Theaters machte. Die Nachricht, das Hall nach zweiundvierzig Jahren eine Neuinszenierung von Becketts ‘Warten auf Godot’ im Old Vic Theatre plane, mit einer ungewöhnlich starken Besetzung, sorgte für Schlagzeilen. Man hoffte auf ein neues ‘theaterhistorisches Ereignis’.

Schon bei der britischen Erstaufführung hatte der Kritiker Harold Hobson die musikalische Qualität des Textes erkannt, seine besondere “linguistische Architektur”, die ausdrücken könne, was klaren, rationalen Aussagen nicht zugänglich sei. Peter Hall spricht von Becketts “herrlichen Rhythmen“ und der Poesie des Stückes. Ich selbst machte als junger Regisseur die Entdeckung, daß man einem Text von Beckett nur gerecht werden konnte, wenn man ihn wie die Partitur eines musikalischen Werkes zu lesen verstand; und daß die Frage, was ein Text zu bedeuten habe, bei einem poetischen Gebilde nicht viel sinnvoller ist als bei einem Stück Musik.

Weil es hierzulande kaum einen gibt, der die musikalisch-rhythmischen Qualitäten eines Theatertextes besser zu lesen verstünde als Peter Hall, durfte man gespannt darauf sein, was Hall mit seinen vier Solisten Ben Kingsley, Alan Howard, Denis Quilley und Greg Hicks – alles Leute mit großen Namen, die man im Laufe der Jahre in vielen Hauptrollen des Nationaltheaters bewundern konnte – diesmal zustandebringen würde.

Wer viel erwartet, riskiert enttäuscht zu werden. Ben Kingsley als Estragon, eine schmächtige, leicht vornüber gebeugte, ängstliche Gestalt in verschlissenem Gehrock mit Tuchmütze und Schnürschuhen, ist die glaubhafteste Figur in Halls neuer Godot-Inszenierung. Alan Howard als Wladimir mit langem Mantel, Halstuch, Stiefeln und breitkrempigem Hut, einen Kopf größer als Kingsley und von athletischem Wuchs, mit unsäglich dummem Schildkrötenausdruck, pathetisch und eitel, wirkt wie eine Karikatur auf sich selbst in den zahllosen Heldenrollen, die er über die Jahre spielte. Denis Quilley, ein trotz seiner Beleibtheit höchst eleganter Pozzo mit Reithose, Stiefeln, karierter Hose, feinem Sakko und Reisemantel, erscheint im ersten Akt eher jovial als bedrohlich, im zweiten kaum hilflos oder beklagenswert. Und Greg Hicks als sabbernder, zuckender, hin und her tolkelnder Lucky, in zerfetzten Klamotten mit verbeultem Zylinderhut der Inbegriff einer Vogelscheuche, spielt seine Rolle so, daß wir selbst bei seinem großen Solo nichts für ihn empfinden.

Warum so erfahrene Leute den Tücken des täuschend einfachen Textes erliegen konnten, blieb unerfindlich. Warum werden viele Dialoge so mechanisch, unpersönlich, ohne innere Beteiligung gesprochen, daß der Humor verfliegt, die Witze schal und albern klingen und wir der inneren Logik der Wechselrede nicht mehr folgen können? Warum erlaubt man den Darstellern, in sich selbst verliebt zu posieren und dabei nicht nur die Verbindung zum Partner, sondern auch den Kontakt mit dem Publikum zu verlieren? (Gegen Ende der Vorstellung waren einige Zuschauer vor und neben mir eingeschlafen).

Ab und zu gelingt es Kingsley und Howard, einzelne Passagen so zu sprechen, daß die poetische Struktur des Textes quasi pur sich mitteilt, ungetrübt von naturalistischen Beiwerk, und dabei in ihren Rollen doch so natürlich und glaubhaft zu erscheinen, daß wir als Zuschauer buchstäblich alles mitzuspielen bereit sind. Die lyrische Passage kurz nach Beginn des zweiten Aktes “All die toten Stimmen./ Die Rauschen wie Flügel./ Wie Blätter./ Wie Sand./ Wie Blätter” sowie die darauf folgende Sequenz über die Schwierigkeiten des Denkens konnte man sich nicht schöner und besser wünschen.

Die Enttäuschung über die Aufführung als ganzes orientiert sich an solchen Höhepunkten.

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