die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1971
Text # 11
Autor Oscar Wilde/ Charles Marowitz
Theater/ Kulturpolitik
Titel The Critic as Artist
Ensemble/Spielort Open Space Theatre/London
Inszenierung/Regie Charles Marowitz
Uraufführung
Sendeinfo 1971.06.02/BBC German Service/Kulturkaleidoskop

Während sich in London gerade die Theaterkritiker aus verschiedenen europäischen Ländern zu einer internationalen Fachtagung versammelten, brachte das Open Space Theatre die Uraufführung des neuen Stückes ‘Der Kritiker als Künstler’ von Oscar Wilde. Diese im Hinblick auf die posthume Autorenschaft etwas verwirrende Nachricht findet eine einfache Erklärung: Oscar Wilde schrieb vor 80 Jahren einen Essay gleichen Titels; Charles Marowitz, der Leiter des Open Space Theatre, richtete den Text für die Bühne ein und präsentierte ihn, insofern mit Recht, als ‘World Premiere’. Es ist ein langer Dialog zwischen einem degenerierten Feingeist und dessen jugendlichem Freund, der den brillant formulierten frivolen Bemerkungen des Älteren über das Verhältnis von Kritik, Kunst und Natur zunächst heftig widerspricht, schließlich aber der geistigen Verführung erliegt.

Gilbert, der Ältere, behauptet, daß Kunst nie naiv sei. Wer Kunst herstellen wolle, müsse sich seiner selbst vollkommen bewußt sein. Wie der Künstler sich über das natürliche Leben erhebe, so auch der Kritiker über die Kunst. Kritik sei darum die höhere, wahrhaft kreative Kunst, sei nichts und niemandem verpflichtet außer sich selbst und diene auch keinem anderen Zweck. Vom Standpunkt der Kunst aus müsse das Leben als mißlungen gelten. Wie die Kunst lebendiger sei als das Leben, so viel lebendiger sei die Kritik als die von ihr kritisierte Kunst. Und wie Kunst im Verhältnis zum einfachen Leben stets unmoralisch zu sein habe, so wenig könne Kritik jemals ernsthaft sein, redlich und fair.

Diese lapidaren Thesen, aus dem Zusammenhang des Gesprächs gerissen, ergeben für sich genommen, ohne die komplementären Gedanken des anderen Partners, wenig Sinn. Die Gewichte aber sind so ungleich verteilt, daß man die Argumente des älteren Freundes schlichtweg für die Ansicht des Autors hält. Die Regie von Marowitz bestätigt diesen Eindruck; sie gibt der Rolle des Gilbert Maske und Gebaren Oscar Wildes und verdeckt die Ironie, die in die Gegenrichtung treibt.

Ich weiß nicht, ob dies vielleicht auch der Grund dafür war, dass die meisten Londoner Kritiker die Aufführung mit freundlichen Worten lobten; womöglich weil sie die geistreichen Reden über die Bedeutung von Kritik zu unmittelbar auf sich selbst bezogen. Ich fand dagegen, daß die Inszenierung erheblich unter dem Niveau des Textes blieb, der eine differenziertere, subtilere und graziösere Darstellung verdient hätte.

Marowitz hatte die gerade in London tagenden Kritiker zu einem gemeinsamen Besuch der Vorstellung und einem anschließenden Gespräch mit Bühnenautoren, Theaterleuten und Publikum eingeladen. Die Diskussion, die die Kluft zwischen den feindlichen Lagern – Theaterpraktiker auf der einen, Theaterkritiker auf der anderen Seite – überbrücken helfen sollte, wärmte alte Vorurteile auf und bewies vor allem, daß Theaterleute und Kritiker normalerweise vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen, selten über den eigenen Horizont hinaus blicken und darum auch kaum in der Lage sind, ihren Standort im Verhältnis von Leben, Kunst und Kritik wirklich kritisch zu bedenken.

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