Sam Shepard, von dem es heißt, er sei vermutlich der bedeutendste amerikanische Bühnenautor der jüngeren Generation, ist in Europa noch ein Unbekannter. Seine ersten Stücke wurden von New Yorker Off-Broadway-Theatern vorgestellt, so unter anderem von Ellen Stewarts La-Mama-Company. Als Mitautor des Drehbuchs zu Antonionis ‘Zabriskie Point’ kam Shepard ins Filmgeschäft, zog sich jedoch bald wieder, frustriert, wie er sagt, aufs Theater zurück und übersiedelte nach London. Einige seiner kürzeren Stücke wurden in den letzten Jahren auf kleinen Londoner Bühnen vorgestellt, ohne größeres Aufsehen zu erregen.
Die Freehold Company, eine der besten experimentellen Theatergruppen der Stadt, arbeitet zurzeit an einer Neuinszenierung von Shepards “Icarus’ Mother” (Mutter des Icarus). Es zeigt eine Gruppe von jungen Leuten beim Picknick am Strand, eine zunächst ganz normale, leicht durchschaubare Situation, aus der sich allmählich die Tagtraumphantasien der einzelnen Personen verselbstständigen, wie Feuerwerksraketen in den Himmel schießen, platzen und verglühen. - Das King’s Head Pub-Theater in Islington hat die Erstaufführung von Shepards Wildweststück ‘Cowboy Mouth’ angekündigt.
Unter der Regie von Charles Marowitz und Walter Donohue brachte das Open Space Theatre soeben die Uraufführung der Rocker-Tragödie ‘The Tooth of Crime’ (Der Zahn des Verbrechens). Es spielt im Gangstermilieu und beschreibt den erbarmungslosen Kampf zweier Männer im Dickicht der Großstadt New York. Die Moral der Kämpfenden ist die des Dschungels, das Duell der Killer hat Spielcharakter, wird streng nach Regeln ausgefochten, ein Spiel auf Leben und Tod. Der alternde Popmusic-Star und Rockerkönig Hoss ist müde geworden und fühlt, daß sein Ende nahe ist. Der Gangsterfürst im Ledergewand trägt sich noch immer im Stil der Sechzigerjahre; doch die hohl theatralische Kraftmeierpose ist längst aus der Mode gekommen. Hoss ahnt, daß ihn die Zeit überholt hat, er fürchtet den Stil der Neuen, der weniger sentimentalen jüngeren Generation, die das Spiel (the name of the game is killing) mit höherem Risiko spielen und größerer Raffinesse. Der alternde Killerkönig bereitet sich vor auf das letzte Gefecht. Sein Herausforderer Crow, die Krähe, erscheint in der Höhle des Löwen und verlangt die Machtübergabe. Es kommt zum Zweikampf, einem rock-musikalisch-verbalen Duell in drei Runden, bei dem Hoss unterliegt. Er erschießt sich.
Der streng ritualisierte, beinahe tänzerische Kampf der Rivalen war auch der Höhepunkt der, wennzwar durchaus nicht perfekten, doch sehr eindrucksvollen Inszenierung, in welcher die Hauptdarsteller einen schauspielerischen Kraftakt vorführten, der schon wegen der Schwierigkeit des Textes größte Bewunderung verdient. Die Sprache des Stückes nämlich ist ein stellenweise völlig unverständliches Gemisch aus In-Jargons aus der Welt des Sports, der Astrologie, der Popmusik- und Drogensüchtigen, aus dem Wildwestfilm- und Gangstermilieu, – eine erfundene Sprache, die so irreal ist wie die Charaktere selbst als überlebensgroße Heroen beinahe klassischen Formats.
‘The Tooth of Crime’ von Sam Shepard zeigt die amerikanische Gesellschaft als Unterwelt, in welcher die nackte Gewalt regiert und nur noch der Stil im Gebrauch von Gewalt über Tod und Leben der Rivalen entscheidet.