“Was spricht für ein internationales Theaterfestival in einer Zeit, da Pragmatismus die einzige Sprache ist, die von Politikern (die über die Verteilung der öffentlichen Gelder das Sagen haben) verstanden wird?“. Diese Frage stellte der Londoner Theaterkritiker Michael Billington zur Eröffnung des dritten Londoner Internationalen Festivals des Theaters. Seine Antwort: “Je mehr ausländische Theater wir importieren, um so besser wird unser eigenes Theater werden“ ... “Ein so vielseitiges kosmopolitisches Festival wie LIFT kann das schäbige puritanische Image der Briten verbessern helfen”.
Als “größter diplomatischer Coup“ des diesjährigen Festivals galt die Teilnahme des chinesischen Jing-Xi-Ensembles. “Wenn LIFT uns nichts anderes gebracht hätte als den Besuch der Vierten Peking-Operntruppe”, schrieb eine Londoner Zeitung, “hätte es damit allein schon seine Existenz gerechtfertigt”. Die chinesische Regierung war bereit, den Ausflug der im Augenblick populärsten Theatertruppe des Landes mit über einer halben Million Mark zu subventionieren, während die Briten selbst nur einen Zuschuß von 5000 Mark beisteuern konnten.
‘Die drei Niederlagen des Tao San Chun’ ist ein im traditionellen Stil der Peking-Oper geschriebenes Schauspiel von Wu Zuguan, einem der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller der Volksrepublik. Das im neunten Jahrhundert angesiedelte Stück vermittelt eine sehr moderne Botschaft. Wu Zuguan hat eine feministische Variante von ‘Der widerspenstigen Zähmung’ geschrieben, die Geschichte vom Triumph einer ebenso schönen wie schlagfertigen jungen Frau, die im Kampf der Geschlechter den selbstgefälligen Männern (die auch im sozialistischen China noch ihre Frauen beherrschen wollen) das Fürchten lehrt.
Die südkoreanische Schauspielerin Kong Ok-Jin machte mit ostasiatischen Formen des Straßen- und Volkstheaters bekannt. Kong Ok-Jin hat die Vortragskunst der altkoereanischen Geschichtenerzähler, Pansoli, und die Tradition der sogenannten Krüppeltänze wiederbelebt – eine fremdartige Mischung aus Rezitation, Tanz, Pantomime und Clownerie
Das südafrikanische Bahamutsi-Theater zeigte zwei Stücke von Maishe Maponya. Das erste, ‘Dirty Work’ (Dreckarbeit), ist eine böse Satire auf die verzweifelten Versuche der weißen Südafrikaner, durch ein immer komplexer und unübersichtlicher werdendes System von Sicherheitsmaßnahmen ihrem historischen Schicksal zu entgehen. Die Inszenierung, die in Soweto nicht gezeigt werden durfte, hatte in Südafrika Aufsehen erregt, weil hier zum ersten Mal ein Weißer unter der Regie eines Schwarzen (dem Autor des Stückes) auftrat. Ein Text von Beckett inspirierte Maponya zu seinem halbautobiographischen Stück ‘Gangsters’ über einen schwarzen Dichter, der von südafrikanischen Sicherheitsbeamten zutode gefoltert wird.
Die katalanische Truppe Els Comediants aus Barcelona entzückte das Londoner Publikum mit ihrem übermütig karnevalistischen Spektakel ‘Alè’ (Atem), ein fröhlichfrivoles, symbolträchtiges Spiel über Gott und die Welt, Geburt und Tod, eine Aufführung, bei der es keine Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung geben konnte und deren Ausgelassenheit unmittelbar ansteckend wirkte.
Die Gastspiele des Mladinsko-Theater aus Ljubljana und des Teatre Nowy aus Posen gaben Gelegenheit zu einem Vergleich der Arbeit von prominenten Bühnen aus zwei sehr unterschiedlichen sozialistischen Ländern, ein Vergleich, der durch ein Podiumsgespräch über ‘Die Rolle des Theaters in Polen und Jugoslawien’ weitergeführt werden konnte.
Die Jugoslawen zeigten die ‘Messe in a-moll’ von Ljubisa Ristic, ein szenischmusikalisches Requiem auf den jüdischen Revolutionär Boris Davidowitsch Nowski, der 1937 in einem Stalinschen Konzentrationslager auf schreckliche Weise ums Leben kam. Trotz der etwas ungewöhnlichen Sitzordnung – das in der Mitte des Raumes auf Kissen hockende Publikum ist nach allen vier Seiten hin von Podesten umgeben, auf denen kurze Szenen aus dem Leben und Sterben des Helden wie bewegliche Bilder auf- und ausgeblendet werden – wirkte die Inszenierung, die mit Texten aus einem halben Dutzend europäischer Sprachen eine Art Esperanto-Effekt zu erzielen versucht, als wäre sie ein Produkt aus den frühen siebziger Jahren. Für die Jugoslawen selbst schien sie vor allem wichtig zu sein als Vehikel der kritischen Auseinandersetzung mit der Perversion der sozialistischen Idee, eine Auseinandersetzung, die nur in metaphorischer Verschlüsselung stattfinden darf.
Janusz Wisnieskis mehrfach preisgekrönte Inszenierung seines Schauspiels vom ‘Ende Europas’ steht unübersehbar in der großen polnischen Tradition des bildhaften Theaters, das aus Gestik und Bewegung, Musik und Stimme streng durchformalisierte Rituale konstruiert, szenische Bilder von unmittelbar poetischer Wirkung. Wisniewskis ‘Ende Europas’ ist die apokalyptische Vision von einer Welt, die über dem Abgrund tanzt; eine Ansammlung grotesker Gestalten, die wie Marionetten agieren und sich von den lebensgroßen Puppen, die sie mit sich herumtragen, kaum unterscheiden; seelenlose Roboter, Menschenhülsen, die Vertreter einer zum Tode verurteilten Zivilisation, deren Untergang zum Symbol der Hoffnung wird auf eine menschenwürdige Welt.
Um zum Abschluß des dritten London International Festival of Theatre LIFT ’85 noch einmal Michael Billington zu zitieren: “Die Vorstellung, die wir von anderen Ländern haben, wird ganz wesentlich geprägt von den uns bekannten Formen des künstlerischen Ausdrucks dieser Länder”. Mit anderen Worten, Kunst kann zum Botschafter der Völkerverständigung werden. Und dies kann ganz praktische Folgen haben.