die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 354
Autor Jeremy Weller
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Mad
Ensemble/Spielort Grassmarket Project/Edinburgh Festival Fringe
Inszenierung/Regie Jeremy Weller
Uraufführung
Sendeinfo 1992.08.29/DS Kultur 1992.08.31/WDR/SWF Kultur aktuell/RIAS/BR5 (versch. Versionen)

Brian McMasters, der neue Direktor des Edinburgh International Festival, ist zu bedauern. Weil sein Vorgänger die Stellung verließ, ohne für die Zeit danach bereits vorgesorgt zu haben, wie das heutzutage nötig und darum üblich ist, mußte McMasters in fünf Monaten sein erstes Programm aus dem Boden stampfen, das ihm (wie man leider am Ende der zweiten Festivalwoche zugeben muß) so dürftig geriet, daß er nun von allen Seiten dafür gescholten wird.

Nicht zum ersten Mal in der Geschichte des schottischen Festivals hat das Rahmenprogramm des Festival Fringe mit seinen besten Inszenierungen das offizielle Programm überflügelt. Der von dem Glasgower Dichter Edwin Morgan ins schottische Idiom neu übertragene ‘Cyrano de Bergerac’ im Traverse Theatre wurde in diesen Tagen ebenso oft gerühmt wie einige Aufführungen aus dem diesmal besonders reichhaltigen Programmangebot der Edinburger Demarco Gallery, darunter das Gastspiel eines irischen Ensembles mit einem erschreckenden Stück über die bis in die sechziger Jahre praktizierte Mißhandlung von unverheirateten Müttern in kirchlichen Strafanstalten.

Die heftigsten Reaktionen, vom Ausdruck höchster Bewunderung bis zum Vorwurf des Mißbrauchs der beteiligten Darsteller, hat in diesem Jahr die von Jeremy Weller entwickelte Inszenierung ‘Mad’ ausgelöst. Es ist der dritte Teil eines Projekts, das vor zwei Jahren mit einer Arbeit unter dem ironischen Titel ‘Glad’ (Froh) begann, sich mit dem Leben von Obdachlosen befaßte und von Obdachlosen selbst, unterstützt von einigen Schauspielern, vorgestellt wurde. ‘Glad’ war so erfolgreich, daß es anschließend auch im Ausland gezeigt werden konnte. 1991 hatte Weller ähnlichen Erfolg mit ‘Bad’ (Schlecht), eine Inszenierung, die er mit jugendlichen Strafgefangenen entwickelte.

Als letzten Teil der Trilogie der Versuche, das Schicksal von Menschen zu beleuchten, die in unserer Gesellschaft als Außenseiter gelten und von ihr abgeschrieben werden, ist hier wieder eine Inszenierung entstanden, die das, was den Beteiligten wirklich widerfuhr, als Stoff benutzt für ein aufführbares, das heißt über Wochen hin Abend für Abend wiederholbares Stück Theater, von dem sich sagen ließe, es habe auf neue und besondere Weise das Leben geschrieben. Weller nennt es “eine Reise zum Verständnis dessen, was die Worte ‘mad’ (verrückt) und ‘madness’ (Wahnsinn) bedeuten”.

Wie in den früheren Stücken ‘Glad’ und ‘Bad’ gibt es auch hier wieder die zentrale Rolle eines ‘Regisseurs’, der den Sinn des Unternehmens erläutert und seinen Ablauf kontrolliert. Neun junge Frauen und drei Männer sind zu einem Vorsprechtermin erschienen. Für ein Stück, das in Edinburgh aufgeführt werden soll, werden Personen gesucht, die selbst vorübergehend in Nervenheilanstalten waren oder sonst direkte Erfahrungen mit seelischen Störungen haben.

Die drei Männer, wie auch ein Teil der Mädchen und jungen Frauen, denen sie als Partner ihrer der Wirklichkeit nachgestellten Szenen zur Verfügung stehen sollen, sind Schauspieler. Doch wie sich herausstellt, haben fast alle bereits einen Nervenzusammenbruch erlebt und können von persönlichen Katastrophen berichten: Von frühen Kindheitserlebnissen, die sie für immer gezeichnet haben, von grausamen Vätern und Ehemännern, von seelischer oder körperlicher Mißhandlung und den unausbleiblichen Folgen der Entwicklung von Neurosen und Zwangsvorstellungen bis zur totalen Hilflosigkeit, von Phasen der tiefsten Depressionen, der krankhaften Freß- und Magersucht, von Alkohol- und Drogenexzessen und anderen Selbstzerstörungsversuchen.

In den nachgespielten Szenen aus der Vergangenheit der gequälten Mädchen und Frauen tobt und schreit sich der aufgestaute Haß gegen ihre Peiniger aus, scheint die Kontrolle über sich zu verlieren, schlägt wie von Sinnen auf die männlichen Kollegen ein, die ihre früheren Partner repräsentieren, versucht sie – Umkehrung der erlittenen Abhängigkeit – ihrerseits zu mißbrauchen – und lernt in der Wiederholung der furchtbaren Erlebnisse sich selbst zu erkennen und von den Schrecken der in ihnen lebendigen Vergangenheit zu befreien.

Die Aufführung enthält gewalttätige Szenen von ungeheurer Dramatik, die auch vom Publikum immer wieder als echt bedrohlich empfunden werden. Weil es weiß, daß die Darsteller keine gewöhnlichen Schauspieler sind, sondern Personen, die die schlimmsten Phasen ihrer Vergangenheit nacherleben, wird es viel tiefer als sonst in die entfesselten Gefühle, die wir ‘Wahnsinn’ nennen, hineingezogen und erfährt dabei selbst eine Katharsis, die durch Furcht und Schrecken uns zu verstehen lehrt, wie Menschen, weil sie nicht lieben können, sich gegenseitig zugrunde richten.

Auf geschickte Weise wird im Verlauf des Stückes selbst die Frage gestellt, ob und wie weit nicht der Autor/Regisseur, der sich realer Personen bedient, um an deren Geschichte die Fragwürdigkeit der Bedingungen unseres Zusammenlebens aufzuzeigen, diese Menschen für eigene, wennzwar ehrenwerte Zwecke mißbraucht. Als er gegen Ende den Darstellern mitteilt, er habe den allergrößten Respekt vor dem Mut, den sie alle bewiesen hätten, fürchte aber, noch immer zu wenig verstanden und darum kein Recht zu haben, aus den Bruchstücken ihres wirklichen Lebens eine Aufführung zu machen – wird er von den anderen fast gelyncht.

Jeremy Wellers Theaterarbeit erscheint mir so außerordentlich wichtig, weil sie über die Grenzen immer noch gängiger Theatertraditionen, die kaum noch einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, hinaus geht und durch die Erschütterung aus der Erfahrung wirklichen Leids mit Mitteln des Theaters noch an den Mann bringt, daß und wo unsere Welt im Argen liegt und wie ihr zu helfen wäre.

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