die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 236
Autor Stece Shill/Annie Griffins
Theater
Titel Face Down/Pocket Atlas/Blackbird the Pirate/ The Summit
Ensemble/Spielort Forced Entertainment/IOU/Brittonioni Brothers/Ralf Ralf/Institute of Contemporry Art (ICA)/London
Sendeinfo 1988.04.01/RIAS 1988.04.02/SWF Kultur aktuell/DLF/HR 1988.04.04/SRG Basel 1988.04.07/WDR (versch. Versionen)

“Die Krise des britischen Theaters ist nicht das Resultat mangelnder Begabung, sondern fehlender Finanzen“. Der Satz eines Londoner Theaterintendanten teilt eine Binsenwahrheit mit, die der im vergangenen Jahr vorgelegte Krisenbericht der Cork Commission, einer unabhängigen Untersuchungskommission, die die Arbeitsbedingungen der britischen Theater prüfen sollte, hundertfach bestätigt. Dort heißt es unverblümt: “Das Saatbeet der theatralischen Entwicklung in England ist verwahrlost und verendet”.

Das Institut für zeitgenössische Kunst (ICA) hat sechs der innovativsten Theatergruppen des Landes eingeladen, ihre neuesten Arbeiten vorzustellen, um zu beweisen, daß – allen kunstfeindlichen Maßnahmen zum Trotz – der Nährboden, der die britische Theaterlandschaft wachsen, blühen und gedeihen ließ, jenes vernachlässigte “Saatbeet der theatralischen Entwicklung”, noch fruchtbar ist.

Den sonst sehr verschiedenartigen Projekten ist eines gemeinsam: die Suche nach neuen Möglichkeiten des theatralischem Ausdrucks, wobei die visuellen, musikalischen und atmosphärischen Elemente in den Vordergrund, die literarischen in den Hintergrund treten. Das Ergebnis ist die Entdeckung neuer Formen der szenischen Poesie, die das Vorurteil, die künstlerischen Produkte der Avantgarde seien schwierig, unverständlich und selten vergnüglich, eindrucksvoll widerlegen.

Die Reihe begann mit einem Stück der in Cheffield ansässigen Truppe Forced Entertainment, ein dramatisches Rituell aus vertrauten, doch sinnlos erscheinenden Gesten der Kommunikation, Gesten der Zärtlichkeit, Verweigerung, Aggression und Einsamkeit. Zwei identisch gekleidete, in einem Schuppen hausede junge Paare führen wortlos vor der Geräuschkulisse unablässigen Regens, schriller Musik und einer monotonen Stimme, die vom seelenlosen Leben der Großstadtmenschen spricht, die Varianten partnerschaftlicher Foltern vor, Verhaltensformeln, die, herausgelöst aus ihrem realen Kontext, grotesk wirken, mitunter erheitern, manchmal tief traurig stimmen. Fünf Stationen im Leben und Sterben von Menschen im Dschungel der großen Städte.

‘Face Down’ (Mit dem Gesicht nach unten) von Steve Shill ist eine szenische Meditation über ein Gemälde von Edward Hopper. Im Halbdunkel eines Schlafzimmers liegt ein unbekleideter Mann im Bett, das Gesicht in den Kissen. Neben ihm und uns zugewandt sitzt eine weibliche Gestalt. Die Stimme einer älteren Frau beginnt, ihrer Tochter über die Umstände ihrer Hochzeitsnacht im Kriegsjahr 1943 zu berichten, ein langer Monolog mit langen Schweigepausen, wobei uns allmählich aufgeht, daß die Schlafzimmerszene mit den sanften Geräuschen der Meeresbrandung, dem zwischen Mond und Sonne, Zikadengezirp und Möwengeschrei wechselnden Licht, das durch die Jalousie einfällt, und dem schweigsamen Paar, das aus der Nacht in den Tag und wieder in die Nacht hinein lebt, liebt, tanzt, spielt, lässig und gelassen die Zeit sich vertreibt, zu der Geschichte einer Hochzeitsnacht vor 40 Jahren gehört, welche die Stimme der älteren Frau ihrer Tochter erzählt, die alles ist, was ihr von damals blieb, weil ihr Mann am nächsten Morgen zu seiner Einheit zurück mußte, kurz darauf an die Front versetzt wurde und dort fiel – alles, außer jener Erinnerung an eine selbstvergessen durchlebte Sommernacht.

Eine ganz harmlose, einfache Szene, die aus der Retrospektive fast tragische Züge gewinnt und uns mit wunderbar zarten, durch und durch kalkulierten Mitteln optisch, akustisch und atmosphärisch lebendig wird. Ein Stück szenische Poesie.

‘Pocket Atlas’ (Taschenatlas) , die neueste Inszenierung der 1976 in Yorkshire gegründeten Theatertruppe IOU, ist die haarsträubend verrückte Geschichte einer fantastischen, surrealistischen Seereise in anderthalb Stunden und zweieinhalb Jahrtausenden durch alle natur- und geisteswissenschaftlichen Zonen und sämtliche Meere der Welt in Begleitung närrischer Köche, darunter ein offenbar zeitlich und räumlich omnipräsenter Smutje namens Bell, der nicht nur den Komponisten Anton Webern unter mysteriösen Umständen erschoß, sondern auch am Tod Schuberts und anderer großer Musiker beteiligt gewesen sein könnte.

Es ist eine fast unbeschreibliche Mixtur aus Texten, Musik, Liedern, toten und lebenden Bildern, Versatzstücke eines abenteuerlichen, provokatorischen, höchst vergnüglichen Spektakels. Die international berühmte Truppe IOU gilt längst als eine der originellsten, erfindungsreichen Experimentiertheater des Landes. Was sie mit den jüngeren Gruppen verbindet, ist nach den Worten eines Ensemblemitglieds das “Denken in Bildern”. Damit schwimmen sie gegen den Strom des traditionellen britischen Theaters. Das Neue, noch nicht Kartographierte wirkt nicht selten bedrohlich. Dafür erreichen sie ein junges Publikum, das mit den kühnen Bildkompositionen der Pop-Videos aufwuchs, mit konventionellem Theater wenig anzufangen weiß, in diesem Sinne unverbildet ist, doch mit Begeisterung anspricht auf den ‘nicht-literarischen Stil’ der Avantgarde.

Annie Griffins ‘Blackbird the Pirate – Ein Melodrama in mehreren Teilen’ erzählt die in Fragmente zerlegte Schauergeschichte vom schändlichen Leben und entsetzlichen Ende des Unholds Edward Teach, eines englischen Seepiraten, als ironische Parabel über die Heroisierung maskuliner Gewalt.

Die Brüder Tim und Chris Britton treten auf als Brittonioni Brothers, die sich als international bekannte Filmemacher präsentieren, Ausschnitte aus einzelnen, mit primitivsten Mitteln hergestellten Filmprojekten vorführen, sie mit mehr oder minder absurden, kalauernden Kommentaren versehen und damit den Tanz um die goldenen Kälber der Filmindustrie verulken. Es ist der Versuch, die Techniken der beliebten englischen Fernsehreihe ‘Monty Python’s Flying Circus’ auf die Bühne zu bringen.

Wesentlich subtiler, origineller und ergiebiger war der Auftritt der Truppe Ralf Ralf in dem von den Brüdern Jonathan und Barnaby Stone entwickelten Stück ohne Worte ‘The Summit’ (Der Gipfel). Offensichtlich inspiriert durch die Gorbatschow-Reagan-Begegnung in Reykjavik, zeigt es die Konfrontation zweier Männer, die einander bedrohen, beschimpfen und verurteilen, variationsreiche Schattengefechte austragen, doch schließlich, nach einem lang ausgespielten Zeremoniell von Einladungs- und Verweigerungsgesten, an einem Tisch Platz nehmen, wo sie – nach neuen Versuchen der gegenseitigen Einschüchterung – konkret zu verhandeln beginnen, sich dabei nicht einigen können, dann aber plötzlich Formen der direkten Verständigung entdecken.

Nachdem sie sich von den Schaltzentralen, die sie aus dem Hintergrund steuern, abgekoppelt haben, fangen sie an, sich menschlich näher zu kommen. Sie tauschen persönliche und private Erfahrungen aus, bringen sich Lieder und Tanzschritte bei, und singend und tanzen vergessen sie für kurze Zeit alle Kontroversen und gehen zum ersten Mal miteinander um wie Menschen, die mehr verbindet als sie trennt – bis sie von ihren Kommandozentralen zurückgepfiffen werden, neue Instruktionen bekommen und vor ihrem heimischen Publikum wieder die alten feindseligen Reden halten.

Das Erstaunlichste ist, daß die einigermaßen verwickelten Vorgänge uns in allen Einzelheiten vollkommen klar und verständlich mitgeteilt werden, obwohl die Akteure in zwei verschiedenen erfundenen Sprachen sprechen, von denen wir kein Wort verstehen und doch genau wissen, wovon die Rede ist. Tonfall und Lautstärke, Rhythmus und Modulation, Gesten und Mimik genügen als Mittel der nicht-verbalen Verständigung. Eine Erfahrung, die uns bewußt macht, wie eng die Grenzen des theatralischen Ausdrucks normalerweise gesteckt sind.

Weil die Avantgarde von heute das etablierte Theater von morgen ist, wird sie zum Kriterium der Kreativität und Vitalität einer Theaterlandschaft. “Theatralische Initiativen kann man vernachlässigen, aushungern, ignorieren und marginalisieren”, heißt es im Programmblatt zur experimentellen Theaterreihe, “aber man kann sie nicht ausmerzen. Mag es unter den finanziellen Restriktionen noch so sehr leiden, das junge englische Theater lebt“.

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