“Die Krise des britischen Theaters ist nicht das Resultat mangelnder Begabung, sondern fehlender Finanzen“. Der Satz eines Londoner Theaterintendanten teilt eine Binsenwahrheit mit, die der im vergangenen Jahr vorgelegte Krisenbericht der Cork Commission, einer unabhängigen Untersuchungskommission, die die Arbeitsbedingungen der britischen Theater prüfen sollte, hundertfach bestätigt. Dort heißt es unverblümt: “Das Saatbeet der theatralischen Entwicklung in England ist verwahrlost und verendet”.
Das Institut für zeitgenössische Kunst (ICA) hat einige der innovativsten Theatertruppen des Landes eingeladen, ihre neuesten Arbeiten vorzustellen, um zu beweisen, daß – allen kunstfeindlichen Maßnahmen zum Trotz – der Nährboden, der die britische Theaterlandschaft wachsen, blühen und gedeihen ließ, jenes vernachlässigte “Saatbeet der theatralischen Entwicklung”, noch fruchtbar ist.
Den sonst sehr verschiedenen Projekten ist eines gemeinsam: die Suche nach neuen Möglichkeiten des theatralischen Ausdrucks, wobei die visuellen, musikalischen und atmosphärischen Elemente in den Vordergrund, die literarischen in den Hintergrund treten. Das Ergebnis ist die Entdeckung neuer Formen der szenischen Poesie, die das Vorurteil, die künstlerischen Produkte der Avantgarde seien schwierig, unverständlich und selten vergnüglich, eindrucksvoll widerlegen.
Die Reihe begann mit einem Stück der in Sheffield ansässigen Truppe Forced Entertainment, ein dramatisches Rituell aus vertrauten, doch sinnlos erscheinenden Gesten der Kommunikation, Gesten der Zärtlichkeit, Verweigerung, Aggression und Einsamkeit. Zwei identisch gekleidete, in einem Schuppen hausende junge Paare führen wortlos vor der Geräuschkulisse unablässigen Regens, schriller Musik und einer monotonen Stimme, die vom seelenlosen Leben der Großstadtmenschen spricht, die Varianten partnerschaftlicher Foltern vor, Verhaltensformeln, die, herausgelöst aus ihrem realen Kontext, grotesk wirken, mitunter erheitern, manchmal tief traurig stimmen. Fünf Stationen im Leben und Sterben von Menschen im Dschungel der großen Städte.
‘Face Down’ (Mit dem Gesicht nach unten) von Steve Shill ist eine szenische Meditation über ein Gemälde von Edward Hopper. Im Halbdunkel eines Schlafzimmers liegt ein unbekleideter Mann im Bett, das Gesicht in den Kissen. Neben ihm und uns zugewandt sitzt eine weibliche Gestalt. Die Stimme einer älteren Frau beginnt, ihrer Tochter über die Umstände ihrer Hochzeitsnacht im Kriegsjahr 1943 zu berichten, ein langer Monolog mit langen Schweigepausen, wobei uns allmählich aufgeht, daß die Schlafzimmerszene mit den sanften Geräuschen der Meeresbrandung, dem zwischen Mond und Sonne, Zikadengezirp und Möwengeschrei wechselnden Licht, das durch die Jalousie einfällt, und dem schweigsamen Paar, das aus der Nacht in den Tag und wieder in die Nacht hinein lebt, liebt, tanzt, spielt, lässig und gelassen die Zeit sich vertreibt, zu der Geschichte einer Hochzeitsnacht vor vierzig Jahren gehört, welche die Stimme der älteren Frau ihrer Tochter erzählt, die alles ist, was ihr von damals blieb, da ihr Mann am nächsten Morgen zu seiner Einheit zurück mußte, kurz darauf an die Front versetzt wurde und dort fiel – alles, außer jener Erinnerung an eine selbstvergessen durchlebte Sommernacht.
Eine ganz harmlose, einfache Szene, die aus der Retrospektive fast tragische Züge gewinnt und uns mit wunderbar zarten, durch und durch kalkuliertem Mitteln optisch, akustisch und atmosphärisch lebendig wird. Ein Stück szenische Poesie.
‘Pocket Atlas’ (Taschenatlas), die neueste Inszenierung der 1976 in Yorkshire gegründeten Theatertruppe IOU, ist die haarsträubend verrückte Geschichte einer phantastischen, surrealistischen Seereise in anderthalb Stunden und zweieinhalb Jahrtausenden durch alle natur- und geisteswissenschaftlichen Zonen und sämtliche Meere der Welt in Begleitung närrischer Köche, darunter ein offenbar zeitlich und räumlich omnipräsenter Smutje namerns Bell, der nicht nur den Komponisten Anton Webern unter mysteriösen Umständen erschoß, sondern auch am Tod Schuberts und anderer großer Musiker beteiligt gewesen sein könnte.
Es ist eine fast unbeschreibliche Mixtur aus Texten, Musik, Liedern, toten und lebenden Bildern, Versatzstücke eines abenteuerlichen, provokatorischen, höchst vergnüglichen Spektakels. Die international berühmte Truppe IOU gilt längst als eine der originellsten und erfindungsreichsten Experimentiertheater des Landes. Was sie mit den jüngeren Gruppen verbindet, ist nach den Worten eines Ensemblemitglieds das “Denken in Bildern”. Damit schwimmen sie gegen den Strom des traditionellen Theaters. Das Neue, noch nicht Kartographierte wirkt nicht selten bedrohlich. Dafür erreichen sie ein junges Publikum, das mit den kühnen Bildkompositionen der Pop-Videos aufwuchs, mit konventionellem Theater wenig anzufangen weiß, in diesem Sinne unverbildet ist, doch mit Begeisterung anspricht auf den “nichtliterarischen Stil” der Avantgarde.
Wie im vergangenen Jahr fällt auf, daß die meisten Versuche, die den Rahmen konventioneller Aufführungen sprengen, sich in Richtung auf Performance Art hinbewegen. Es sind Vorstöße in den Grenzbereich zwischen darstellender und bildender Kunst, wo das Visuelle dominiert und geplant improvisierend aus Menschen und Gegenständen, oft unter Einbeziehung akustischer Mittel (Geräusche und Musik), in Raum und Zeit bewegliche Bilder entstehen.
Nur für zwei der Inszenierungen wird ein Autor genannt, wobei der Text in einem der beiden Fälle nurmehr als geistiges Sprungbrett und Assoziationshilfe benutzt worden zu sein scheint und nur in rudimentärer Form, kaum noch verständlich hörbar geblieben ist. Nur eine der Gruppen arbeitet mit einem Regisseur, der den szenischen Ablauf aus der Distanz überwachen kann. Jedes der Stücke wurde im Verlauf der Proben gemeinsam entwickelt und muß als ‘work in progress’ angesehen werden.
‘Different Ghosts’ (Verschiedene Gespenster) ist ein szenisches Mobile aus menschlichen Figuren und toten Gegenständen in einem Zimmer, das gleichsam geladen ist mit den Geistern derer, die in verschiedenen Jahrhunderten im selben Haus gewohnt, geliebt und gearbeitet haben und nun, bei ständig wechselndem Mobiliar, den Raum miteinander teilen, wobei die späteren Bewohner ihre Vorgänger wahrzunehmen scheinen, nicht aber umgekehrt. So kommt es zu grotesken räumlichen Überlagerungen. Gary Stevens, der sich das Ganze ausgedacht hat und als stummes Gespenst des 20. Jahrhunderts den älteren Geistern die szenischen Requisiten wie ‘objets trouvés’ ihrer Vergangenheit zuspielt, beschreibt das Stück als surreale Tragikomödie zum Thema Vergänglichkeit.
‘Time To Go’ (Abschied) von der Truppe Intimate Strangers ist eine theatralische Komposition aus stark stilisierten visuellen, verbalen, tänzerischen musikalischen Elementen über den Tod des Dichters Anton Tschechow, wobei der uns vorgeführte Zeitraum sich wie beim Zoom-Effekt von der letzten Woche über den letzten Tag, die letzte Nacht, die letzten Stunden auf die letzten Minuten des Sterbenden verengt.
‘The Haunting Tree’ (Der Gespensterbaum) der Truppe Axis Mundi versteht sich als “Geistergeschichte der Industriewelt”, ein “performance requiem” auf die Zerstörung unserer Welt durch Kriege und den sogenannten industriellen Fortschritt sowie die damit verbundene Zerstörung des menschlichen Geistes, die das Stück in einer Folge fragmentarischer Szenen signalisiert, in denen die Welt buchstäblich im eigenen Unrat versinkt.
Die Gruppe ‘Dogs in Honey’ konfrontiert auf andere Weise mit den Folgen der zeitgenössischen Barbarei. Statt der Erwartung des Publikums zu entsprechen, das trotz aller Aufgeschlossenheit für künstlerische Experimente auf den Unterhaltungswert einer theatralischen Veranstaltung nur ungern verzichtet, stellen die Darsteller der Truppe ‘Hunde in Honig’ (so die Übersetzung ihres Namens) mit den Symbolen ihrer auf blinden Konsum verkommenen Umwelt – TV, Disco, Zigarette und Alkohol – sich selbst als form- und inhaltslose Abfallprodukte vor; was hier dazu führte, daß einige Zuschauer, angeödet vor so viel unvermittelter Wirklichkeit, die Flucht ergriffen.
Als eines der originellsten Projekte erwies sich das visuell besonders reizvolle Stück mit dem Titel ‘Images From Purdah’ von und mit Keith Khan und Diane Esguerra, sie weißhäutig-blond, er dunkelhäutig und offenbar indischen Geblüts mit langem, kohlrabenschwarzem Haar. Es ist eine szenische Meditation über den Dualismus von Schwarz und Weiß, Männlich und Weiblich, Orient und Okzident, ein aus großen Gesten, Texten und exotischen Klängen komponiertes Schau-Spiel, welches vor allem durch die Manipulation eines verblüffend vielseitig verwendbaren indischen Tuches, das die Darsteller kleidet, verhüllt, ineinander verwickelt, fesselt oder erstickt, sowie durch Grazie und Poesie der Bewegungen in Erinnerung bleiben wird.
Weil die Avantgarde von heute das etablierte Theater von morgen ist, wird sie zum Kriterium der Kreativität und Vitalität einer Theaterlandschaft. “Theatralische Initiativen kann man vernachlässigen, aushungern, ignorieren und marginalisieren“, heißt es im Programmblatt zur experimentellen Theaterreihe, “aber man kann sie nicht ausmerzen. Mag es unter den finanziellen Restriktionen noch so sehr leiden, das junge englische Theater lebt“.