die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1987
Text # 220
Autor Jim Allen
Theater/ Kulturpolitik
Titel Perdition
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Sendeinfo 1987.02.10/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR Kritisches Tagebuch/SRG Basel

Die Kontroverse um das kurz vor seiner Uraufführung Ende Januar im Londoner Royal Court Theatre abgesetzte Schauspiel ‘Perdition’ (Verdammnis) von Jim Allen ist zu einer Haupt- und Staatsaktion geworden, die nun schon seit Wochen die britische Öffentlichkeit beschäftigt und im Laufe der Auseinandersetzung Fragen aufgeworfen hat, die über das Thema Zensur und Freiheit des künstlerischen Ausdrucks hinausgehen; Fragen, die, weil sie an Tabus rühren, moralische Konflikte provozieren, die vom Einzelnen Entscheidungen verlangen. Der durch die Absetzung seines Stückes bitter enttäuschte Autor sollte sich mit dem Gedanken trösten, daß er wenigstens indirekt erreichte, was er, wie er mitteilt, vor allen Dingen erreichen wollte: die Kontroverse, “die zum Austausch von Gedanken geführt, Sachverhalte aufdeckt“. Wofür ihm zu danken ist.

Allens Theaterstück wurde zum Skandalon, weil es die These vertritt, die Führer der zionistischen Bewegung seien aus opportunistischen Erwägungen im Blick auf die Gründung des Staates Israel zu Kollaborateuren der Nazis und damit zu Komplizen bei der Ermordung von hunderttausenden jüdischer Mitbürger geworden. Dies ergebe sich aus zahlreichen Aussagen prominenter Zionistenführer (darunter Ben Gurion) und aus den Protokollen eines 1954 in Israel geführten Verleumdungsprozesses. Die Gegner des Stückes werfen dem Autor Geschichtsfälschung vor, Diffamierung der Opfer des Holocaust, Verbreitung anti-israelischer Propaganda und die Förderung antisemitischer Vorurteile.

Bei dem Versuch, das Für und Wider der Argumente zu sichten und einen Zusammenhang zu verstehen, der sich erst jetzt einigermaßen übersehen läßt, hat sich, wie ich zugeben muß, meine eigene Meinung zur Sache verschoben: die starken Bedenken gegen die Absetzung eines Stückes aufgrund eines auf die Theaterleitung ausgeübten Druckes von außen sind dem Gefühl gewichen, daß der Vorwurf unlauteren Verhaltens gegen den Autor eine gewisse Berechtigung hat, weil er Fakten und Fiktion, historische Tatsachen und frei Erfundenes auf höchst fragwürdige Weise mischt, und zwar in klar erkennbarer und unbestrittener politisch-propagandistischer Absicht.

Jim Allen erklärt einerseits, er habe kein Dokumentarstück schreiben wollen, die Handlung sei Fiktion, besteht aber andererseits auf der Behauptung, der Text enthalte nur historische Wahrheiten, ein Widerspruch, in den sich auch der Intendant des Theaters bei dem Versuch, die Aufführung des Stückes zu rechtfertigen, verwickelte. Die öffentlichen Kommentare des Autors geben den Eindruck, daß es ihm weniger um die Aufklärung wichtiger historischer Ereignisse geht, als um eine Polemik gegen das, was er nicht ohne Grund die Blut-und-Boden-Politik der israelischen Regierung nennt, eine Realpolitik, die er als konsequenten Ausdruck der zionistischen Idee versteht; worüber sich streiten ließe.

Mag solche Kritik berechtigt oder gar wünschenswert sein, ist sie jedoch hier am falschen Punkt aufgehängt. Der abscheuliche, offenbar von Eichmann den zionistischen Führern in Ungarn vorgeschlagene Menschenhandel wird im Stück zum Ausgangspunkt der Argumentation, daß die Judenführer den Mord an ihresgleichen “nicht nur in Ungarn, sondern überall in Europa” mitzuverantworten haben. Die Art der Generalisierung einzelner historischer Ereignisse verlagert die Akzente so sehr, daß das Stück zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Unterschied zwischen Judaismus und Zionismus oder zwischen den linken und rechten Strömungen innerhalb der zionistischen Bewegung kaum mehr geeignet erscheint und die Vermutung nahe liegt, daß es viel eher dazu beitragen werde, uralte antisemitische Ressentiments zu schüren.

Nur aus diesem Grund und im Gedanken an die Ungeheuerlichkeit des an den Juden verübten Verbrechens scheint es mir sinnvoll, in einem solchen Fall abzuwägen zwischen der Freiheit des Ausdrucks und der Gefahr der effektiven Diffamierung.

In einem der zahlreichen Leserbriefe von jüdischer Seite, die in den letzten Wochen in Londoner Tageszeitung erschienen, steht der treffende Ausdruck “theatralischer Overkill”. Der Brief endet mit den Worten: “Zugegeben, Israel wurde nicht das sozialistische Utopia, das man sich anfangs erträumt hatte. Zugegeben, der Staat hat eine Entwicklung genommen, der den Begriff Zionismus untergräbt und Israel jedem anderen kolonialistischen Regime gleichmacht. Aber wenn Jim Allen seine Ablehnung Israels zur Basis seiner Beurteilung des europäischen Infernos während des Zweiten Weltkriegs macht und sich dabei auf rechtsradikale Zionisten beruft (die er ansonsten verabscheut), um seine These zu beweisen, ist dies nicht nur Verfälschung der Geschichte, sondern auch zweitklassige Kunst“.

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