die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 198
Autor Mike Figgis
Theater
Titel Animals of the City
Ensemble/Spielort Institute of Contemporary Arts (ICA)/London
Inszenierung/Regie Mike Figgis & Ensemble
Uraufführung
Sendeinfo 1984.06.01/SWF Kultur aktuell/RB/ORF Wien/SRG Basel 1984.06.07/SR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Unter den experimentellen Theatergruppen Großbritanniens kommt der People Show besondere Bedeutung zu. Es ist die einzige der freien Theaterkooperativen, die sich seit den bewegten Sechziger Jahren, unangefochten von allen Krisen, die anderen zum Verhängnis wurden, bis heute am Leben erhalten hat. Fast zwei Jahrzehnte lang hat die People Show ihre künstlerische Eigenart bewahrt, ohne an Faszination zu verlieren, hat uns mit neuen Möglichkeiten des Theaters vertraut gemacht, hat ihr Publikum veranlaßt, auf neue Weise zu sehen, zu hören und zu verstehen. Und auch die Schwierigkeit, das Neue daran zu beschreiben, ist geblieben als Problem, mit Worten sagen zu müssen, was sich mit Worten allein kaum sagen läßt – so etwa diesen: “Die People Show liefert poetische Bilder ohne Moral, Spielräume für die Phantasie der Zuschauer, szenische Gedichte, die nicht mehr sagen als sie zeigen und uns erscheinen wie sinnliche Träume aus den Bereichen des Vorbewußten, die im Bewußtsein vor Anker gehen: Sinnbilder ohne Hinter-Sinn”.

Von der People Show muß gesprochen werden anläßlich einer Aufführung, die – wie viele andere der letzten Jahre – ohne das Vorbild kaum denkbar wäre. Mike Figgis, langjähriges Mitglied der People Show, Musiker und Darsteller, inzwischen auch Autor, Filmemacher und Regisseur, stellt im Theater des Londoner Instituts für zeitgenössische Kunst (ICA) unter dem Titel ‘Animals of the City’ sein drittes Bühnenwerk vor, eine Arbeit, die mit szenischen, musikalischen, sprachlichen fotografischen, filmischen und anderen visuellen und akustischen Mitteln vertraute Themen und Motive gestaltet.

Ein alter Mann kehrt nach New York zurück, um eine ehemalige Geliebte zu treffen. Er hat romantische Erinnerungen an die Vergangenheit, die sich durch eine Folge fotografierter oder gefilmter Szenen auf Straßen, in schäbigen Hotelzimmern oder in einem Nachtclub als eine Art Selbsttäuschung über das damals wirklich Geschehene darstellt. Das Mädchen scheint ihn kaum wiederzuerkennen, und die Begegnung ist kurz.

Daß sich die Story (oder was davon noch erkennbar ist) in so wenigen Worten mitteilen läßt, macht deutlich, daß die Fabel des Stückes nur einen Rahmen absteckt für das, was sich sinnlich, visuell und akustisch in einer Collage flüchtiger, verfließender Bilder, Töne und Lieder, Worte und Gesten einprägt: Augenblicke aus dem Alltag einer monströsen Stadt, die mit ihren gigantischen Gebäuden die Menschen, die darin ein- und ausgehen, zu einem Lemurendasein verurteilt.

Was sich szenisch begibt, spielt überwiegend im Halbdunkel, aus dem hier und dort Personen und Örtlichkeiten herausgeleuchtet werden. Die rechte Hälfte der Spielfläche ist mit einer Ansammlung von etwa anderthalb Meter hohen Miniatur-Wolkenkratzern bestückt: die bekannte Hochhauslandschaft der Insel Manhatten, eine Spielzeugstadt, die sich am Abend, wenn die Dämmerung blau hereinzieht, in ein wogendes Meer aus weißen und farbigen Lichtern verwandelt. Von den erhöhten Zuschauersitzen blickt man hinunter auf die unverwechselbaren Konturen der Stadt: New York aus der Vogelperspektive. Dahinter, auf einem meterhohen Podest, eine Art Hausfront mit drei Fenstern, durch die man wie aus großer Höhe auf gefilmte Straßenszenen oder in Innenräume hineinsieht. Links, im Halbdunkel kaum wahrnehmbar, ein Viermann-Orchester, das zu Beginn mit klassischen Jazz-Melodien auf die New Yorker Szene einstimmt und mit Blues und melancholischen Operettenliedern immer wieder musikalische Akzente setzt.

Die beweglichen Bilder des Films; die Projektion von Diapositiv-Aufnahmen, die durch langsame Überblendung ein Zimmer im Licht verschiedener Tageszeiten belebt erscheinen läßt, mit Menschen, die wie Geister ins Bild treten, sich im Raum zu bewegen scheinen und so geheimnisvoll wie sie kamen wieder daraus verschwinden; die fließenden Übergänge von einer Sphäre zur anderen, wobei Filmszenen, Standfotos und Vorgänge auf der Bühne ineinander übergreifen, Motive weiterführen oder subjektiv Erlebtes kritisch kommentieren; Musik und Lieder, die der Darsteller des alten Mannes, der ehemalige Bariton der Royal Opera Jess Walters, mit schöner, schwermütiger Stimme singt; Straßengeräusche und die Kakophonie der Laute, die aus Millionen von Radios und Fernsehgeräten tönt – all dies fügt sich zur Sinfonie einer erbarmungslosen Stadt, in der die Menschen wie Tiere hausen, die in den frühen Morgenstunden aus ihren Verstecken kriechen und sich zu ihrem Wasserloch, dem nächsten Brunnen begeben, um sich zu erfrischen.

‘Animals of the City’ von Mike Figgis ist eine Collage zum Thema Großstadt, eine Reise der Erinnerung an ein verlorenes oder verfehltes Glück, von dem nur die Sehnsucht des Einsamen wahr zu sein scheint.

Ähnlich wie bei den Inszenierungen der People Show, wurde das Stück nach einem (in diesem Fall vom Autor vorgeschriebenen) Konzept von den Mitwirkenden gemeinsam erarbeitet, und wie Mike Figgis versichert, ist damit zu rechnen, daß es sich im Laufe der Vorstellungen durch Improvisation der hier in viel direkterem Sinne kreativen Darsteller als ‘work in progress’ weiterentwickeln wird.

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