die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1995
Text # 362
Autor Jeremy Weller
Theater/ Edinburgh Festival
Titel ’20/52’
Ensemble/Spielort Grassmarket Project/Traverse Theatre/Edinburgh Festival
Inszenierung/Regie Jeremy Welle
Hauptdarsteller Stephanie Lightfoot-Bennett
Uraufführung
Sendeinfo 1995.08.28/SDR/ORB Wien 1995.08.31/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Seit Jeremy Weller während des Edinburgh Festival 1990 zum ersten Mal mit dem von ihm gegründeten Grassmarket Project von sich reden machte, haben seine ungewöhnlichen Inszenierungen Jahr für Jahr die Gemüter bewegt und heftige Reaktionen, vom Ausdruck der höchsten Bewunderung bis zum Vorwurf des Voyeurismus und Mißbrauchs seiner Darsteller, ausgelöst.

Die Reihe begann mit einem Stück unter dem ironischen Titel ‘Glad’ (Froh) über eine Gruppe von Obdachlosen. Die Inszenierung war so erfolgreich, daß sie anschließend auch im Ausland gezeigt werden konnte. 1991 hatte Weller ähnlichen Erfolg mit ‘Bad’ (Schlecht), einem Projekt über jugendliche Strafgefangene. Im darauf folgenden Jahr kam der dritte Teil der Trilogie über Außenseiter der Gesellschaft unter dem Titel ‘Mad’ (Verrückt) heraus, ein Stück über Menschen, die in Nervenheilanstalt gewesen waren, 1994 dann ein Projekt über die Bewohner eines Altenheims.

Was Wellers Inszenierungen von anderen Theaterarbeiten grundsätzlich unterschied, war die Tatsache, daß sie aus der Improvisation mit den Darstellern entwickelt wurden, die mit wenigen Ausnahmen keine Schauspieler waren, sondern Personen, die ihr eigenes Leben zum Gegenstand der Darstellung machten. Was sie spielten, war nicht erfunden, sondern die Wiederholung von Situationen, die sie selbst erfahren hatten. So entstanden Stücke, die auf neue und besondere Weise das Leben selber schrieb.

Jeremy Wellers jüngstes Projekt, das soeben im Edinburger Traverse Theatre uraufgeführt wurde und bis zum Ende des Festivals auf dem Programm steht, heißt ’20/52’. Der Titel bezieht sich auf eine interne Verordnung der britischen Polizei zur besonderen Überwachung von Häftlingen, die suizidgefährdet erscheinen. Im Mittelpunkt steht eine 34-jährige dunkelhäutige Frau namens Stephanie Lightfoot-Bennett und ihr Kampf um die Aufklärung der Umstände, die vor fast drei Jahren zum Tod ihres Zwillingsbruders Leon in einer Polizeizelle von Manchester führten.

Stephanie Lightfoot-Bennett spielt sich selbst. Szenen aus ihrem Privatleben werden nachgestellt und geben uns eine Vorstellung davon, welche verheerenden Folgen der Tod ihres Bruders hatte – für sie selbst, ihren Ehemann, ihre Kinder und andere Familienmitglieder. Und Sie machen verständlich, warum sie wie eine Besessene nach der verborgenen Wahrheit sucht.

Leon, ein hochgewachsener Schwarzer von kräftiger Statur, damals 31 Jahre alt, war im November 1992 unter dem Verdacht, eine Kasse gestohlen zu haben, verhaftet worden. Sechs Tage später ließ die Polizei seine Schwester durch Telefonanruf wissen, ihr Bruder sei tot. Ein Arzt hatte bescheinigt, die Todesursache sei Selbstmord nach Einnahme einer Überdosis von Schlaftabletten.

Stephanie bestand darauf, den Leichnam zu sehen – und erkannte zunächst ihren Bruder nicht. Das Gesicht war vollkommen entstellt, der ganze Körper voller offener Wunden und Blutergüsse, die Kniescheiben seitwärts verschoben, Schürfwunden an Händen und Füßen – ein grauenvoller Anblick. Die von Stephanie verlangte gerichtliche Untersuchung ergab, daß Leon bei winterlichen Temperaturen tagelang nackt zwischen Fäkalien und Erbrochenem bewußtlos auf dem Betonfußboden seiner Zelle gelegen und die Polizei ihn nicht in ein Krankenhaus überwiesen hatte.

Als ein unabhängiger Mediziner ein zweites pathologisches Gutachten erstellte und keine Spur von Drogen feststellen konnte, gestand der für den Totenschein zuständige Gefängnisarzt, seinen Befund gefälscht zu haben. Daraufhin entschied das Gericht, Leon sei in der Haft umgebracht worden. In einer vom Innenministerium geforderten Revision wurde das Urteil wieder aufgehoben. Inzwischen kämpft Stephanie Lightfoot-Bennett um eine dritte Verhandlung, bei der endlich die Wahrheit über den Tod ihres Bruders zutage kommen soll.

Die ganze Geschichte muß vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, daß die Zahl der Todesfälle in Polizeihaft und Gefängnis in England, Wales und Schottland im Laufe der letzten Jahre auf erschreckende Weise angestiegen ist und zurzeit durchschnittlich alle sechs Tage ein solcher Todesfall gemeldet wird. Da die meisten der Häftlinge, die entweder Selbstmord begehen oder unter fragwürdigen Umständen zu Tode kommen, schwarzer Hautfarbe sind, liegt der Verdacht nahe, daß schwarze Häftlinge in Polizeigewahrsam mit einer Sonderbehandlung rechnen müssen, die allein im vergangenen Jahr in 57 Fällen tödliche Folgen hatte.

In Wellers Inszenierung teilt Stephanie Lightfoot-Bennett die grausigen Details in Gesprächen mit Journalisten, die ihr zu helfen bemüht sind, fast beiläufig mit. Daß sie in der Lage ist, die traumatischen Vorgänge drei Wochen lang Tag für Tag vor einem Publikum zu rekapitulieren – eine seelische Tortur, an der weniger starke Naturen unweigerlich zerbrechen würden – beweist, wie viel ihr daran gelegen ist, die Wahrheit über den Tod ihres Bruders zu finden, damit Recht geschehe.

“Ich komme aus einer Familie von fünf”, erklärt Stephanie. “Wer am lautesten schreit, bekommt mehr. Das ist mein Motto. Ich werde weitermachen, weil ich es Leon schulde. Er war mehr für mich als die größte Goldmine der Welt. Und er ist immer noch ein Teil von mir. Jeden Tag, wenn die Lichter angehen und die Aufführung beginnt, habe ich dieses merkwürdige Gefühl in mir. Und ich starre ins Publikum und suche nach seinem Gesicht – auch wenn es bizarr erscheint ... Ich möchte eines Tages zum Grab meines Bruders gehen, mit seiner Tochter, und beide anschauen und sagen: Ich hab’s geschafft, ich hab’s wirklich geschafft. Was danach mit mir geschieht – es macht mir Angst, daran zu denken“.

In einem Gespräch nach der Vorstellung gab Jeremy Weller zu verstehen, es gehe ihm vor allem darum zu zeigen, was ein solches Ereignis vor allem für die Hinterbliebenen bedeute, daß es das Leben vieler Menschen zerstöre. Was er mit seiner Theaterarbeit versuche, habe wenig zu tun mit dem, was man heute als Kunst verstehe, einer Form von Kunst, die für die Wirklichkeit ohne Bedeutung sei. Sein Ideal sei eine Gruppe von Menschen, die von eigenen Erfahrungen spreche vor einer anderen Gruppe, die wisse: das ist ein Stück Wirklichkeit.

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