die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1998
Text # 366
Autor Pip Utton/Sarah Kane/Samuel Beckett
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Adolf/Crave/All Strange Away
Ensemble/Spielort Paines Plough/Asylum Theatre Company/Edinburgh Festival
Inszenierung/Regie Nigel Roper
Hauptdarsteller Pip Utton/Mark Stuart Currie
Uraufführung
Sendeinfo 1998.09.02/WDR Skala 1998.09.03/SWF Kultur aktuell 1998.09.05/DLR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Wer sich Jahr für Jahr in der Verlegenheit sieht, in der längst unüberschaubar gewordenen Fülle der Veranstaltungen im Rahmenprogramm der schottischen Festspiele, dem Edinburgh Festival Fringe, etwas zu finden, das den Rahmen sprengt und zu sehen sich wirklich lohnt, weiß, daß die Quantität der Vorstellungen – inzwischen ist man bei über 16.000 angekommen – im umgekehrten Verhältnis zur Qualität der Aufführungen steht. Zu den wenigen Höhepunkten im diesjährigen Rahmenprogramm gehörte eine Aufführung, die bereits im letzten Jahr von sich reden machte und jetzt – in leicht veränderter Fassung – wieder so erfolgreich war, daß die geplante Vorstellungsreihe wegen des großen Zulaufs verlängert werden mußte.

‘Adolf’ von und mit Pip Utton ist ein beklemmend aktuelles Porträt des deutschen Führers, der kurz vor seinem Selbstmord von den engsten Vertrauten Abschied nimmt mit einer Rede, die fast alles enthält, was die menschenverachtende Ideologie nicht nur für die Deutschen so anziehend machte. Die eigentliche Pointe liegt in der Coda des Stückes. Der Schauspieler fällt zum Schein aus der Rolle, wendet sich salopp extemporierend direkt an sein Publikum und läßt all die abscheulichen rassistisch-chauvinistischen Töne hören, denen wir heute in jeder britischen Pub, an jedem deutschen Stammtisch wieder begegnen können. “Ich brauche nicht wiederzukommen“, hört man den Geist des großen Diktators sagen, “ich bin nie fort gewesen”.

Was vor der Uraufführung über das neue Stück ‘Crave’ von Sarah Kane, vorgestellt von der Gruppe Paines Plough, zu hören war, ließ nur Gutes erwarten. Seit der Premiere ihres ersten Bühnenwerkes im Januar 1995 im Londoner Royal Court Theatre gilt die heute 27-jährige Autorin als großes Nachwuchstalent des britischen Theaters. ‘Crave’ (Verlangen) entpuppte sich als ein auf vier Personen, zwei Männer und zwei Frauen, verteilter Text, der bis zur Kopie der persönlichsten sprachlichen Eigenheiten den Arbeiten Samuel Becketts nachgeschrieben ist; ein Text ohne jede Substanz, der viel vorgibt, aber in Wirklichkeit nur aus einer mit Kalauern durchsetzen Folge von ineinander verschränkten Phrasen besteht. Hört man genauer zu (oder macht sich die Mühe, den Text noch einmal nachzulesen), stellt man fest, daß die Worte, wenn man sie aus der syntaktischen Verschränkung löst und als Aussagen der jeweils Sprechenden zu verstehen sucht, keinen Sinn mehr ergeben.

Wohl weil der Autorin bei der Sache von Anfang an nicht ganz geheuer war, verfiel sie zunächst auf den Gedanken, den Text unter falschem Namen zu veröffentlichen. Das Lob ihrer Freunde, die ihn “poetisch” und “faszinierend dunkel” fanden, mag sie veranlaßt haben, sich nun doch zu der Autorenschaft zu bekennen. Sarah Kane, heißt es in einem Vorwort zum Stück, verwende hier “Sprache wie Musik”. Die Sprache tönt leer.

Die kleine Asylum Theatre Company unter Leitung des Regisseurs Nigel Roper war in der glücklichen Lage, vorführen zu können, was die Originale des größten Bühnendichters unserer Zeit von ihren Plagiaten unterscheidet. Die Truppe sorgte für eine Sensation: die europäische Erstaufführung eines 1964 geschriebenen, 1976 im Druck erschienenen Textes von Samuel Beckett mit dem Titel ‘All Strange Away’.

Nigel Roper hatte herausgefunden, daß nur einmal der Versuch gemacht worden war, ‘All Strange Away’ auf die Bühne zu bringen – in einer Aufführung des La-Mama-Theaters New York, das nach allem, was davon überliefert ist, mit seinen lauten expressionistischen Mitteln dem fragilen, komplexen Text nicht gerecht werden konnte.

In Ropers Inszenierung sehen wir einen Mann (Mark Stuart Currie), der in einer kreisrunden, kaum anderthalb Meter breiten Sandmulde hockt, kniet, kauert oder liegt und um eine tote Geliebte trauert. Seine Phantasie beschwört die kostbarsten Augenblicke, die das Gedächtnis aufbewahrt hat. Sein Geist müht sich, das Unfaßbare – Tod als das Endgültige – zu begreifen und durch solches Begreifen der Faktizität sie zu entmachten.

Der Mann spricht mit leiser, monotoner Stimme. In einem schwarzen Tuch, das er behutsam entfaltet, liegt eine kleine weiße Figur, ein lebloses Ding aus Stoff, das man wie eine Puppe spielerisch in die Hand nehmen und verbiegen kann, im erinnernden Nachvollzug der Augenblicke höchster Glückseligkeit und in der Vorstellung, wie der Leib der Toten, zusammengestaucht und in ein enges Erdloch gezwängt, vergehen wird – wie dann, sehr langsam, auch die Erinnerung an sie.

Schon an der Erfindung einer solchen szenischen Metapher aus dem Geist eines zunächst vielleicht garnicht für das Theater gedachten Textes, die das darin ohne jede Regieanweisung nur in Worten Gesagte auf ergreifende Weise anschaulich macht, erweist sich der Rang dieser unsäglich zarten, stillen und schönen Inszenierung.

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