die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1979
Text # 142
Autor Richard Crane
Theater
Titel Gogol
Ensemble/Spielort Theatre Upstairs/Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Faynia Williams
Hauptdarsteller Richard Crane
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1979/09.21/SWF Kultur aktuell/RB/WDR Berlin/ORF Wien/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

“Nikolai Gogol starb in Jahre 1852”, heißt es auf dem Programmzettel, “nachdem er den zweiten und dritten Teil seiner ‘Toten Seelen’ verbrannt hatte, mit durch freiwillig auferlegten Hunger ausgezehrtem Leib und Blutegeln an seiner Nase. Dieses Stück ist ein mündliches Tagebuch eines Gogol-Helden, seiner Nase und Kleider, 127 Jahre später in England”.

Die Londoner Premiere des Monodramas Gogol von und mit Richard Crane brachte die Begegnung mit einem kleinen Meisterwerk des poetischen Theaters, ein Stück, geschrieben im Geiste Gogols, das die Brücke zu schlagen versucht zwischen der Welt des 19. und der des 20. Jahrhunderts. Kafka und Beckett haben Pate gestanden bei einem literarischen Text ersten Ranges, der musikalisch und rhythmisch gegliedert ist und vom Autor selbst als ‘sonate pour un homme seul’ virtuos verhalten mit der Präzision eines Soloinstrumentalisten dargeboten wird.

‘Gogol’ von Richard Crane bringt Variationen zu einem Thema aus der Novelle ‘Der Mantel’ mit Motiven aus der Kurzgeschichte ‘Die Nase’ von Nikolai Gogol, die Shostakovich zu der Oper gleichen Namens veranlaßte. Regisseurin Faynia Williams verwendet Teile der Oper als musikalische Brücken zwischen den drei Stationen des Stückes. Sie entsprechen drei Stadien im Leben eines kleinen Büroangestellten, der als Buchhalter eines Großbetriebes eingebunden ist in die Zeitmaschine, die seine Werktage regelt. Die Routine der Büroarbeit ist ihm so sehr zum Lebensinhalt geworden, daß er die Sonntage haßt und fürchtet. Sie erscheinen ihm wie gefährliche, dunkle Löcher, in die man hineinstürzen kann, Ausdruck der absoluten Leere. “Die meisten Selbstmorde passieren am Sonntag”, meint er, eine unbewiesene Tatsache, von der er jedoch zutiefst überzeugt ist.

Auf einem kleinen kreisrunden Podest in der Mitte des Saales hockt ein ärmlich gekleideter Mensch auf einem Stuhl, umgeben von Zeitmessern, die an Schnüren von der Decke baumeln und tick-tack, tick-tack die Sekunden fressen. Der Mann scheint sie mitzuzählen, dem Ende des unerträglich langen Sonntags entgegen. Seine Selbstgespräche berichten vom Stumpfsinn seines Daseins: Er ist ein bedeutungsloses Nichts, ein Mensch, doch ein Niemand. Im zweiten Bild steht er übertrieben selbstbewußt auf seinem Hocker, voller Ehrgeiz und stolz auf den neuen Pelzkragenmantel, der ihm zu Achtung und Erfolg verhalf und zum Symbol seines unaufhaltsamen Aufstiegs zur Spitze des Betriebes geworden ist. Das dritte Bild zeigt ihn halb nackt nach einem Autounfall zusammengekrümmt im Zustand fast völligen Irreseins mit der Wahnvorstellung, daß sich seine Nase verselbstständigt habe und nun ein Eigenleben führe. Ein Bild des Jammers, tragisch und grotesk, hilflos dem eigenen Elend preisgegeben.

Richard Cranes Studie leuchtet ins Innere der Seele eines Menschen vom Schlage des Helden in Gogols ‘Mantel’. Intelligenz, Sensibilität, Imagination und sprachliche Brennschärfe schufen ein Stück Poesie, ein vielschichtiges satirisches Spiel mit hintersinnig tragischen Untertönen.

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