die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1980
Text # 149
Autor Aischylos/ Sophokles/Euripides
Theater
Titel The Greeks (Iphigenie von Aulis/Die Troerinnen/Hecuba/Agamemnon/Elektra/Helena/Orest/Andromache/Iphigenie auf Tauris)
Ensemble/Spielort Aldwych Theatre/Royal Shakespeare Company
Inszenierung/Regie John Barton
Hauptdarsteller Janet Suzman
Sendeinfo 1980.02.04/SWF Kultur aktuell/DLF/RB/SR/SRG Basel (versch. Fassungen) 1980.02.05/DW 1980.02.07/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

John Barton, langjähriger Regisseur der Royal Shakespeare Company, der sich 1964 mit seinem Shakespeare-Zyklus ‘Krieg der Rosen’ in die Theatergeschichte einschrieb, macht wieder einmal Schlagzeilen. Die Erfüllung seines offenbar lang gehegten Traums, die Aufführung eines Dramenzyklus, der die Geschichte des gesamten trojanischen Krieges und das Schicksal des Atridengeschlechts umfaßt und die Ereignisse erstmals in einen chronologischen Zusammenhang bringt, ist das größte und anspruchsvollste theatralische Projekt, das sich das Ensemble in den letzten anderthalb Jahrzehnten zugemutet hat.

Gemeinsam mit dem Altphilologen Kenneth Cavander, der die antiken Dramen neu übersetzte, stellte John Barton aus zehn Tragödien von Aischylos, Sophokles und (vor allem) Euripides eine gewaltige Trilogie zusammen, die unter dem Obertitel ‘Die Griechen’ im Londoner Aldwych Theatre uraufgeführt wurde. Die drei Teile, die normalerweise einzeln an drei aufeinander folgenden Abenden vorgestellt werden, wurden am Premierentag als geschlossene Trilogie dargeboten. Die Aufführung begann um 10:00 Uhr morgens und ging bis in die späte Nacht.

Barton hat versucht, die alten Legenden um den prähistorischen Krieg, dessen Vorgänge den Griechen vor zweieinhalb Jahrtausenden noch so vertraut waren wie ihre eigene Familiengeschichte, in überschaubarer Form dem Zuschauer von heute darzustellen. Der erste Teil mit dem Titel ‘Der Krieg’ beginnt mit ‘Iphigenie von Aulis’ und ‘Die Troerinnen’ von Euripides sowie einer Dramatisierung der aus Homers ‘Ilias’ entlehnten Achilles-Geschichte. Der zweite Teil mit dem Titel ‘Die Morde’ stützt sich auf die Dramen ‘Hecuba’ von Euripides, ‘Agamemnon’ von Aischylos und ‘Electra’ von Sophokles. Der Stoff für den dritten Teil mit dem Titel ’Die Götter’ stammt aus den Stücken ‘Helena’, ‘Orest’, ‘Andromache’ und 'Iphigenie auf Tauris’ von Euripides.

In der neuen Fassung der Stücke fehlt das romantisch-klassizistische Pathos, das wir von den meisten Übersetzungen antiker Tragödien kennen; die Sprache ist einfach in der Diktion, verständlich und dennoch poetisch. Der durchgehend weibliche Chor ist aufgelöst in Einzelstimmen. “Erzähl uns, erzähl die Geschichte, wie alles begann” – und dann erzählen die Frauen, Geschichten vom Anfang der Welt, Geschichten vom Streik der Götter, Geschichten von Liebe zwischen Göttern und Menschen, Geschichten von Krieg und Mord, Schuld und Sühne, wundersame Geschichten, grauenhafte Geschichten – Poesie, Ausdruck des Leids und der Hoffnung.

Die Ereignisse bis zur Ermordung Agamemnons und Klytämnestras im zweiten Teil der Trilogie werden mit seltener Klarheit und ungeschönter Grausamkeit dargestellt. Der Krieg ist Sache der Männer; Ehrgeiz, Berechnung, Feigheit, Stolz, Eitelkeit sind ihre vorherrschenden Charakterzüge. Die Frauen sprechen mit der Stimme der Menschlichkeit und Vernunft; und während die Männer sich in ihr selbst gewähltes Verderben stürzen, erscheinen die Frauen als die eigentlichen Opfer. Die Götter aber, deren Streit den Krieg unter den Menschen entfacht, sind in nichts besser als die Irdischen, unberechenbar, launisch und irrational. Doch während die Menschen für die Schuld, die sie auf sich laden, bitter büßen müssen, können die Himmlischen sich mit sophistischen Ausreden immer wieder aus der Affäre ziehen.

Was sich bis gegen Ende des zweiten Teils durch Schnörkellosigkeit der Sprache, Menschlichkeit der Botschaft, Schönheit und Kraft der Darstellung erschütternd eindrucksvoll mitteilt, verliert betrüblicherweise durch eine unglückliche Besetzung der Elektra-Rolle und – vor allem – den überraschenden Übergang ins reine Lustspiel plötzlich alle Glaubwürdigkeit. Der dritte Teil beginnt noch recht viel versprechend mit der von Janet Suzman virtuos zur Face ausgespielten ‘Helena’ in Ägypten, ein Stück, das sich wegen seiner komischen Elemente und seines Happyends als heitere Einlage geradezu anbot. Problematisch und nachgerade unerträglich wird es jedoch, wenn Barton nicht davor zurückschreckt, auch die Geschichte des von den Furien gehetzten Orest und die Ermordung Helenas bis hin zur märchenhaften Wiederbegegnung der Geschwister Iphigenie und Orest mit vielen anachronistischen Mätzchen und Albernheiten als reine Persiflage darzubieten, wodurch der gesamte dritte Teil zu einem großen Satyrspiel wird, das am Premierentag zwar viel beifälliges Gelächter des erschöpfen Publikums brachte, aber jedes ernsthafte Interesse am Ausgang der Geschichte nahm, der man bis dahin mit größter Spannung gefolgt war; so daß das heiter beschwingte eigentlich zum traurigen Ende einer teilweise grandiosen Aufführung wurde.

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