die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1989
Text # 244
Autor Anton Tschechow/Konstantin Stanislawski/Vanessa Redgrave
Theater
Titel Tschechows Women
Ensemble/Spielort Lyric Theatre Hammersmith/London
Inszenierung/Regie Vanessa Redgrave/David Hargreaves
Hauptdarsteller Vanessa Redgrave/Frances de la Tour
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1989.03.10/SWF Kultur aktuell/DLF/HR/RIAS/RB/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Auf Initiative der Schauspielerin Vanessa Redgrave wurde ein russisch-englischer Theateraustausch verabredet, der das Moskauer Wachtangow-Theater und das neu gegründete jüdische Theater Shalom in diesen Wochen ins Londoner Lyric Theatre Hammersmith brachte und die englische Aufführung eines Szenariums mit dem Titel ‘Tschechows Frauen’ sowie ein Stück über die amerikanische Autorin Lillian Hellmann im Herbst dieses Jahres in die Sowjetunion bringen wird.

‘Tschechows Frauen’ ist eine freie Montage aus Stücken, Kurzgeschichten und Briefen von Anton Tschechow und verschiedenen Texten von und über Konstantin Stanislawski, den großen Regisseur, Schauspielerlehrer und Gründer des Moskauer Künstlertheaters, das vor allem durch seine exemplarischen Inszenierungen der Stücke Tschechows Theatergeschichte machte. Die von Stanislawski für seine Schauspieler entwickelten Ausbildungsmethoden sind für das moderne Theater von unschätzbarem Wert gewesen, haben aber, soweit sie verkürzt als Regeln zur Erlernung eines bestimmten Darstellungsstils mißverstanden wurden – ähnlich wie Brechts Theorie der Verfremdung, die auf Stanislawskis Studien aufbaut, statt sie einfach zu negieren – selbst in Fachkreisen mitunter zu großer Verwirrung Anlaß gegeben.

Aus diesem Grund – und weil ein theaterwissenschaftlich nicht vorgebildetes Publikum ohnehin von alldem wenig weiß – ist es erfreulich, daß das kleine Ensemble unter der Leitung von Vanessa Redgrave und David Hargreaves mit einer kurzen praktischen Einführung in die Arbeitsmethoden Stanislawskis sich auf die Grundlagen der modernen Schauspieltechnik besinnt, dabei die szenische Wirksamkeit, man könnte sagen, den theatralischen Unterhaltungswert der klassischen Übungen entdeckt und so für einen eleganten Einstieg in die Dramenwelt Anton Tschechows und seiner weiblichen Rollen sorgt und dem Publikum gleichzeitig auf sehr anschauliche Weise eine Vorstellung vermittelt von komplexen darstellunstechnischen Problemen, die die Schauspieler gelöst haben müssen (oder gelöst haben sollten), bevor der Vorhang sich hebt und die eigentliche Aufführung eines Stückes beginnt.

Da es hier um die Sache, nicht die Person Stanislawskis geht, kann auch eine Frau (hier Vanessa Redgrave) in der für uns simulierten Probensituation die schauspieltechnischen Übungen leiten. Während die Schauspieler zeigen, wie sie bei der Arbeit lernen, “Alles, was auf der Bühne sich abspielt, hat einen Zweck“ und “Nichts sollte geschehen, nur um beim Publikum ein Gefühl zu erwecken“, lernt der Zuschauer mit ihnen. Und ohne Mühe folgt er den Darstellern von elementaren technischen Übungen zu den komplexen Szenen aus Tschechows Bühnenstücken und Novellen, in denen die Rolle der durch soziale Umstände, vor allem die Bindung an den Mann beschädigten, unerfüllten Frau zum Thema wird; der Frau, die, wie Sonja in ‘Onkel Wanja’, bereit ist, sich in ihr Schicksal zu fügen und auf ein Jenseits zu warten, das endlich Ruhe und inneren Frieden verspricht, oder, wie Olga in den ‘Drei Schwestern’, wenigstens für spätere Generationen “Glück und Frieden auf Erden“ erhofft: “Es ist, als brauchte es nur wenig um zu wissen, warum wir leben, warum wir leiden ... wenn man nur wüßte, wenn man nur wüßte!”.

In dem noch sehr klar als Probensituation definierten ersten Teil wird uns eindrucksvoll vorgeführt, wie groß der Spielraum der Interpretation einer Rolle sein kann. Frances de la Tour spielt die Szene des dritten Aktes der ‘Drei Schwestern’, in der Mascha sich zu ihrer Liebe zu dem Offizier Werschinin bekennt, mit tragikomischen Akzenten und, als kenne sie schon den Ausgang der Affäre, auf tief trauriger Note endend – bis Olga sie daran erinnert, wie glücklich sie noch kurz davor gewesen sei. Und so springt die Szene zurück auf den kaum vergangenen Augenblick der lusterfüllten Gegenwart des Geliebten und bringt uns noch einmal Maschas Liebesgeständnis in denselben Worten, die vorher erschütternd traurig klangen, nun aber jubilierend, selig vor Freude und Glück.

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