die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 49
Autor Howard Brenton
Autorenporträt
Titel Christie in Love/ Gum & Goo/ Hitler dances/ How Beautiful With Badges/ Scott of the Antarctic
Sendeinfo 1972.11.06/ Darmstädter Echo

Der dreißigjährige Howard Brenton ist einer der jungen Bühnenautoren, die England den Ruf erhalten, noch immer das Land zu sein, das seit den fünfziger Jahren die größte Anzahl dramatischer Begabungen hervorgebracht hat. Brentons Produktivität ist erstaunlich: von 1968 bis heute wurden zehn Theaterstücke von ihm uraufgeführt; an zwei weiteren war er als Mitautor beteiligt. 1968 wurde Howard Brenton mit dem John-Whiting-Preis ausgezeichnet, der vom staatlichen Kunstrat alljährlich für Werke vergeben wird, die, wie es heißt, ein wesentliches neues Moment zur Weiterentwicklung der dramatischen Kunst zeigen. Brentons Begabung war damals bereits offensichtlich, wenngleich kaum mehr auszumachen ist, worin der für die Preisverleihung zuständige Ausschuß des Arts Council schon damals das spezifisch Neue an Brentons Arbeiten entdeckt zu haben glaubte.

Die Stücke, die Brenton bisher schrieb, sind formal so unterschiedlich, daß es schwer fällt, sie unter Begriffe zu bringen, die ihre Besonderheit bezeichnen. ‘Christie in Love’, 1970 im Theatre Upstairs uraufgeführt, gibt eine psychoanalytische Studie des Frauenmörders Christie, eines Mannes, der töten muß, um seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen. Die Gesellschaft übt an Christie, dem Opfer eines Milieus, das seine Perversion erzeugte, barbarische Rache: nach ur-heidnischem Glauben vermeint sie die durch die Untat gestörte Weltordnung wiederherstellen zu können durch Tötung des Täters, der in diesem Fall für seine Taten nicht einmal verantwortlich gemacht werden kann. Bei der Gegenüberstellung des Triebtäters Christie mit einem Polizisten, der mit teilnahmsloser Routine die Ereignisse des Falles zu rekonstruieren versucht, tun sich die seelischen Abgründe auf, die hinter der unauffällig alltäglichen Fassade verborgen sind.

Die Faszination des Grauens, das seine Schrecken verliert, wenn man es beim Namen nennt, kehrt auch in anderen Stücken Brentons immer wieder. Hinter der Lust am Makabren spürt man noch etwas von der Angst, die nur der Spott über das Entsetzen bannt. Auch in ‘Gum & Goo’ wird durch frivole Andeutungen auf Massenmörder und Horrorfilm-Gespenster der Schein der Harmlosigkeit bereits porös, bevor eines der Mädchen im Stück ganz unvermittelt schluchzend zusammenbricht und wie mit Stimmen, die aus dem Unbewußten sprechen, im Ton klinischer Berichte ihre geheimsten Phantasien offenbart.

‘Hitler tanzt’, geschrieben 1972, ist ein Stück über den zweiten Weltkrieg, gesehen mit den Augen der Danach-Geborenen, für die die Ereignisse schon Vorgeschichte sind, nicht nur im Sinne einer weit zurückliegenden Vergangenheit, sondern – sofern es die Vergangenheit der historischen Gegenwart ist – auch als bestimmendes Moment dieser Gegenwart. Was geschähe, wenn ein deutscher Soldat, der unter den Trümmern einer alten Ruine begraben liegt, plötzlich wieder auferstände und sich in das Spiel der Kinder einmischen würde? Die graue Gestalt mit weitem Militärmantel, Stahlhelm und Gewehr, damals furchterregendes Symbol des Bösen, hat als Kinderschreck ausgedient: Der Geist Hitlers tanzt nicht nur auf den Gräbern der Opfer des Krieges; in der primitiven Mentalität der militärischen Ausbilder, die die Technik des Tötens lehren, hat er bis heute überlebt.

‘How Beautiful With Badges’ (wörtlich: Wie herrlich mit Abzeichen), ein Stück, das Anfang dieses Jahres im Open Space Theatre uraufgeführt wurde, spielt in idyllisch-ländlicher Gegend unweit einer Großstadt, wo ‘einige gefährliche und unglückliche Personen an einem schönen Sommertag’ auf verschiedene Weise Erholung suchen. Die Begegnung der vier jungen Männer endet für mindestens zwei von ihnen letal; ein dritter wird grausam verstümmelt. Die Christusgestalt, die während des Stückes mehrmals wortlos durch die Szene geht, sitzt am Schluss ungerührt in sich versunken neben den Sterbenden und poliert die Messingsplatte des Kreuzes mit der Aufschrift INRI, ihre Kennmarke, gleichsam das Abzeichen christlicher Mythologie.

‘Scott von der Antarktis’ ist eine Satire auf jeden nationalen Heroenkult; sie spielt mit den bekannten Motiven, treibt jedoch die Ironie ins Grotesk-Komische fort. Das Stück entstand 1971 für das Studententheater-Festival in Bradford und wurde auf einer Eisfläche aufgeführt. Eine Gruppe von Eisläufern umrahmte das Spiel der Schauspieler an bestimmten Stellen mit arabesken Figuren und vereinigte sich nach dem grausen Ende zur ironischen Apotheose.

Das Royal Court Theatre ernannte Howard Brenton für das Jahr 1972 zu seinem Hausautor. Brenton arbeitet, wie man hört, zurzeit an einer Neufassung von Shakespeares ‘Maß für Maß’ für eine Inszenierung von William Gaskill.

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