die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1987
Text # 225
Autor Eduardo Pavlovsky/George C. Wolfe/Pip Simmons
Theater/ Kulturpolitik
Titel Potestad/The Colored Museum/Crossing the Water
Ensemble/Spielort LIFT ’87/London
Sendeinfo 1987.08.05/SWF Kultur aktuell/DLF/HR/RIAS/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Das vierte London International Festival of Theatre (LIFT ’87), das in diesen Tagen zuende geht, hat bestätigt, was der Theaterkritiker Ned Chaillet zu Beginn der Aufführungsreihe vorausgesagt hatte: Sprache ist die geringste aller Barrieren, wenn es um großes Theater geht. Die kleineren und größeren Katastrophen, die das Festival in der ersten Woche heimgesucht hatten – die Absetzung der katalanischen Inszenierung ‘Der Sturm’, die das ganze Theater unter den Wassermassen einer spektakulären Regenanlage zu ersäufen drohte (mit Einnahmeverlusten im Kartenverkauf von £15.000, etwa 45.000 Mark); die Überflutung des Zeltes der australischen Zirkustruppe Oz in einem echten Wolkenbruch; die Visa-Probleme des russischen Ensembles; der Unfall des Hauptdarstellers der Pip-Simmons-Show ’Crossing the Water’; und der plötzliche Tod eines Darstellers der kanadischen Truppe, der wegen einer mysteriösen Senfallergie an einem amerikanischen Mostrichbrötchen starb – die Katastrophen der ersten Woche waren in den Hintergrund getreten, als die letzten Premieren des Festivals über die Bühne gingen.

Dazu gehörten drei Aufführungen, die auf sehr verschiedene Weise eine Konfrontation mit der historischen Vergangenheit suchen. Eduardo Pavlovskys Studie ‘Potestad’ ist eine Abrechnung mit den Jahren der argentinischen Militärdiktatur 1976-1982. ‘The Colored Museum’ von George C. Wolfe, ein Exportartikel des New York Shakespeare Festival, ist eine Theaterrevue in elf Teilen, die ironisch-selbstkritisch Stationen des Weges beleuchtet, den die Schwarzen der Vereinigten Staaten von Amerika seit den Sechzigerjahren gegangen sind. ‘Gor Hoi’ (Überquerung des Wassers) ist der Versuch, mit szenischen, musikalischen und tänzerischen Mitteln die Erfahrungen, Gefühle und Gedanken der südostasiatischen Immigranten zu spiegeln, die in England eine neue Heimat fanden, doch – wie die Schwarzen Amerikas – mit ihrem Ursprung, der Welt ihrer Vorfahren, verbunden bleiben.

Das Stück ‘Potestad’ (Väterliche Gewalt) von und mit dem argentinischen Arzt, Psychiater und Schauspieler Eduardo Pavlovsky beginnt mit der minutiösen Beschreibung einer Familienszene. Ein Arzt berichtet von einem bestimmten Samstagnachmittag, an dem seine Tochter aus der Wohnung der Eltern entführt und ihnen für immer entzogen wurde; der Schmerz um den Verlust der geliebten Tochter hat ihn fast an den Rand des Wahnsinns geführt. Im zweiten Teil kommt es vor einer weiblichen Person, die dem Erzähler wortlos zuhört, zu einem ebenso erschütternden wie erschreckenden Geständnis, daß er als Arzt im Dienst der Junta einem ermordeten Ehepaar das Kind geraubt und als sein eigenes aufgezogen hatte, bis es Jahre später, nach Einführung der Demokratie (wie in sehr vielen ähnlichen Fällen, in denen kleine, zum Teil im Gefängnis geborene Kinder ermordeter Häftlinge kinderlosen Offizieren übergeben wurden), den Angehörigen der eigenen Familie wieder zugeführt werden konnte.

Mit wissenschaftlicher Akribie und untrüglicher Intuition wird ein komplexes Charakterbild entworfen, das dank der virtuosen Darstellung des Autors in der Rolle des Arztes absolut authentisch wirkt. Eduardo Pavlovskys Psychogramm zeigt, wie das durch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgelöste Leid auch die Verursacher selbst erreichen und, weil auch sie Menschen sind, sie seelisch vernichten kann.

Unter dem Motto ‘Das schwarze Amerika lacht über sich selbst’ ist Josef Papps Shakespeare-Festival-Inszenierung aus New York nach London gekommen, eine Kabarett-Revue, die mit Scherz, Satire und viel Selbstironie den Kultfiguren der schwarzen Szene zu Leibe rückt und daran gemahnen möchte, daß Menschen schwarzer Hautfarbe genauso widersprüchlich, paradox, konfus, neurotisch, gut oder böse sind wie die Vertreter der übrigen Menschheit.

Die elf ‘Ausstellungsstücke’ des "Farbigen Museums” sind die Verkörperung schwarzer Idole und der ihnen zugeschriebenen stereotypen Vorstellungen und Verhaltensweisen. Es wimmelt von Namen und Schlüsselworten, die dem Kenner der amerikanischen Szene vertraut, für ein überwiegend weißes europäisches Publikum aber kaum von Bedeutung sind. Ich selbst fand die meisten der monologischen Exponate nicht besonders lustig. Nur wenige der sprachlichen Pointen schienen so genau zu treffen wie der den imaginären Flugreisenden bei der Landung des Traumschiffes von einer schwarzen Stewardess zugerufene Satz: “Achten Sie auf Ihr Reisegepäck! Was Sie nicht mitnehmen, werfen wir über Bord!”. Man verstand: Es kommt darauf an, ein Bewußtsein der eigenen Herkunft und Geschichte zu bewahren, ohne darin zu versinken.

Das chinesische Wort ‘Gor Hoi’ bedeutet ‘Überquerung des Wassers’, verbunden mit der Vorstellung, daß ein Teil der Seele dabei zurückbleibt. Es ist der Titel des tanz- und musiktheatralischen Schauspiels, das über viele Monate hin geplant und unter der Leitung des Regisseurs Pip Simmons mit südostasiatischen Musikern, Tänzern und Darstellern, von denen die meisten heute in England leben, in acht Wochen Probenzeit erarbeitet wurde. Das Stück erinnert an den im dritten Jahrhundert v. Chr. lebenden chinesischen Dichter Qu Yuan, der vergeblich versucht hatte, seinen in zahlreiche Kriege verwickelten König für eine Politik des Friedens zu gewinnen, dafür verbannt wurde und sich schließlich ins Meer stürzte und ertrank. Lange betrauerte das Volk den Tod des Dichters, dessen man alljährlich auch heute noch gedenkt, indem man Reis in die Wogen des Meeres wirft und mit Drachenbooten symbolisch nach seinen sterblichen Überresten suchen läßt. Für die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts nach England eingewanderten Südostasiaten ist die Gestalt des aus seiner Heimat verbannten Dichters zum Sinnbild der Sehnsucht und der Verbundenheit mit dem verlorenen Land ihrer Vorfahren geworden.

Auf dem Wasser der befestigten Themsebucht Shadwell Basin, ein ehemaliger Binnenhafen im Ostlondoner Dockland, wurde eine schwimmende Bühne gebaut, die über einen Steg mit dem Anlegeplatz der Boote verbunden ist. Vier Mädchen vollziehen die Reiszeremonie. Ein mit Lichtern bestecktes Drachenkanu gleitet lautlos heran. Weiß gekleidete, maskierte Gestalten gehen an Land und besteigen die Bühne. Tanzpantomimisch wird der Tod des Dichters dargestellt und die Klage des Volkes, woraufhin sie auf ihrem Boot wieder ins Dunkel der Nacht entschwinden, so gespenstisch wie sie gekommen sind.

Danach geht das Stück über in Szenen, die den Abschied der Auswanderer nach Europa beschreiben, ihre gefahrvolle Seereise und die Ankunft in England, die Probleme der Anpassung an eine fremde Kultur, Angst und Isolation und die Hoffnung, daß sie das Gefühl der Fremdheit eines Tages überwinden und, ohne die alte Heimat zu vergessen, sich in der neuen wirklich zuhause fühlen werden.

Fernöstliche und westliche Elemente, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einem visuell und musikalisch eindrucksvollen, teils heiteren, teils besinnlichen poetischen Schauspiel vor einer außergewöhnlichen Kulisse.

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