die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1982
Text # 327
Kulturpolitik
Ensemble/Spielort Barbican Centre for Arts and Conferences/London
Sendeinfo 1982.03.04/RIAS 1982.03.05/RB, ORF Wien 1982.04.03/Darmstädter Echo (versch. Fassungen)

“So wie der bankrotte Mann von Zeit zu Zeit nach einem guten Mahl verlangt, so gönnt sich Großbritannien in den Tiefen seiner Rezession gelegentlich eine Extravaganz, um seine Lebensgeister zu wecken. Die Eröffnung des neuen Barbican-Kunstzentrums ist der Augenblick einer solchen Extravaganz“. Mit diesen Worten beginnt der Kommentar einer Londoner Zeitung, einer der vielen Stimmen im gewaltigen Chor der Medien, die seit Wochen das große Ereignis feiern. Es erfüllt sich damit ein Traum, den heute wohl kaum einer mehr zu träumen wagte, so daß die konsequente Realisierung dieses Projekts aus den optimistischen fünfziger Jahren nun wirklich wie ein Wunder erscheinen muß.

Als die City of London im Jahre 1955 die Architekten Chamberlin, Powel und Bon beauftragte, einen Plan zu entwerfen zur Sanierung eines fünfunddreißig Morgen großen Geländes in der Nähe der St. Paul’s Cathedral, das durch deutsche Bomben fast völlig zerstört worden war, dachte man an ein begrenztes Projekt, das die Musik- und Schauspielschule der Guildhall und eine Konzerthalle einschließen sollte. Aus dem relativ bescheidenen Vorhaben entstand in den sechziger Jahren der Plan zum Bau eines vielseitigen Kunst- und Kongreßzentrums. Der Luxus, den die Verwalter des reichsten Londoner Bezirks sich leisten wollten, kam teuer zu stehen. Aus den Kosten in Höhe von zehn bis neunzehn Millionen Pfund, mit denen man anfangs gerechnet hatte, wurde das Zehnfache und das Barbican Centre wuchs sich zum größten und bestausgestatteten Kunstzentrum Europas aus, zu einem Komplex der Superlative.

Neben der großen Konzert- und Kongreßhalle mit über zweitausend Plätzen gibt es ein Theater für 1166 Zuschauer und ein Studiotheater mit zweihundert Sitzen, drei Kinos, eine große Kunstgalerie mit einem Freigelände für Skulpturen, eine Bibliothek, Räume für Seminare und kommerzielle Ausstellungen, die Theater und Lehrsäle der Musik- und Schauspielschule, ein Gewächshaus und mehrere Restaurants. Daneben weite Plätze, Dachgärten und riesige Terrassen sowie einen künstlichen Teich mit Enten, Goldfischen, Springbrunnen und einem Wasserfall.

Die statistischen Daten sind schwindelerregend: zehn Ebenen mit einer Bodenfläche von insgesamt 80.000 Quadratmetern; über 30.000 Quadratmeter Parkett und über 21.000 Quadratmeter Teppichböden; die hundertdreißigtausend Kubikmeter Beton entsprechen der Menge, die man zum Bau einer sechsspurigen Autobahn von dreißig Kilometer Länge braucht. Und das Ganze für die Kleinigkeit von nahezu zweihundert Millionen Pfund, die aus den Gemeindesteuern der City of London aufgebracht werden müssen. Nobel geht die Welt zugrunde.

Das Londoner Symphonieorchester wird nach 75 Jahren seines Bestehens im Barbican Centre erstmals ein neues Heim besitzen, einen vom Boden bis zur Decke mit Holz getäfelten Konzertsaal mit fast idealen akustischen Bedingungen. Zur Eröffnung in Gegenwart der Königin spielte man die Ouvertüre zu Wagners ‘Meistersingern’ und Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 mit dem Solisten Wladimir Ashkenazy.

Die Royal Shakespeare Company übernimmt im Mai ein maßgeschneidertes Theater mit flexibler Bühne, das Geräumigkeit mit größtmöglicher Intimität verbindet; keiner der Zuschauer ist weiter als zwanzig Meter von der Bühne entfernt. Man hat aus den Erfahrungen des Nationaltheaters gelernt und auf Zwischen- und Seitengänge im Auditorium verzichtet; jede einzelne Reihe hat eine eigene Tür direkt ins Foyer. Drei schmale Ränge neigen sich der Bühne entgegen. Sichtbehinderung gibt es nicht. Die Sitzmöbel des gesamten Barbican Arts Centre bestehen aus soliden Hölzern oder Leder. Dekorationsstoffe und Teppiche sind farblich dezent aufeinander abgestimmt. Treppenaufgänge und Galerien haben schnörkellos schöne massive Messinggeländer. Beton, Metall, Holz, Glas und Textilien verbinden sich harmonisch. Stoffe, Farben und Lichter mildern die Wucht der schweren Betonelemente, die nach außen geradezu abweisend wirken. Dem von allen Seiten umbauten Barbican Centre fehlt die äußere Eleganz und Schönheit des neuen Nationaltheater-Gebäudes, das wie eine gewaltige moderne Skulptur über dem Themseufer zu schweben scheint. Man muß sich ins Innere des Riesen begeben, um etwas vom Hauch der Musen zu spüren, die in diesen Mauern wohnen sollen.

Ich gestehe, ich tat es mit Skepsis, war bereit, die Rolle des Kindes zu spielen aus dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, den Aufwand obszön zu schelten, den Popanz zu verlachen. Da war zwar mitunter in den Foyers noch etwas von dem bekannten Gefühl, das durch die öden Wartehallen und Zubringerwege moderner Flughäfen weht. Doch den seelenlosen Popanz, den ich erwartet hatte, fand ich nicht. Das Geheimnis schien darin zu liegen, daß man die – trotz aller Krisen wohl noch vorhandenen – Mittel sinnvoll eingesetzt, genau definierten künstlerischen Erwartungen entsprochen und dabei zweckdienlich schöne Gehäuse geschaffen hatte.

Gewiß, nicht alle teilen meine Sympathie für das Barbican. Einige, wie der ehemalige Bürgermeister der City, Sir Edward Howard, der das Projekt seit Jahren erbittert bekämpft, sprechen vom “größten weißen Elefanten der Nachkriegszeit”, der “Concorde unter den Kunstzentren“. Wie auch immer die Dinge laufen mögen: Dem Mut zum Risiko zugunsten der Künste in einer Zeit, die sonst den Eindruck gibt, als sei sie von allen guten Geistern verlassen, ist hier zunächst einmal herzlich zu gratulieren.

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