die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1985
Text # 215
Autor Howard Barker
Theater
Titel Crimes In Hot Countries/The Castle
Ensemble/Spielort The Pit/Barbican Theatre/Royal Shakespeare Company/London
Inszenierung/Regie Bill Alexander/Nik Hamm
Uraufführung
Sendeinfo 1985.10.18/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/SR/ORF Wien/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Howard Barker, Autor von achtzehn Theaterstücken, sechs Filmdrehbüchern, vier Hörspielen und verschiedenen Fernsehfilmen, gilt als eine der begabtesten Stückeschreiber seiner Generation. Doch der große Erfolg, den einige seiner Altersgenossen wie etwa Howard Brenton, David Hare oder Trevor Griffiths gelegentlich feiern durften, ist ihm (sieht man von der Tatsache ab, daß ihm in diesem Sommer für sein Hörspiel ‘Szenen einer Exekution’ der Prix Italia zugesprochen wurde) bisher versagt geblieben.

Dies liegt zweifellos am besonderen Charakter seiner Texte, die uns, dem Publikum, wie auch den Theatern, die sie in Szene setzen, ganz offensichtlich Schwierigkeiten bereiten. Die meisten seiner Stücke wurden von den Theatern, die sie in Auftrag gegeben hatten, zunächst nicht angenommen. Daß sich die Royal Shakespeare Company nun zur fast gleichzeitigen Uraufführung von nicht weniger als drei Barker-Dramen entschloß, die sie im Abstand von einer Woche im kleinen Haus des Barbican The Pit heraus brachte, muß wie ein Versuch der Wiedergutmachung erscheinen. ‘Crimes In Hot Countries’ (Verbrechen in heißen Ländern), das erste Stück der Reihe, wurde vor sieben Jahren im Auftrag der Royal Shakespeare Company geschrieben – und abgelehnt; dem Stück ‘The Castle’ (Die Festung) widerfuhr das gleiche Schicksal im Royal Court Theatre; und ‘Downchild’, der Text des dritten Stückes, entstand bereits im Jahre 1977 und wurde, wie Barker erklärt, von allen Theatern des Landes abgewiesen.

‘Crimes In Hot Countries’ (in der Inzenierung von Bill Alexander) und ‘The Castle’ (in der Inszenierung von Nick Hamm), die beiden ersten Werke der Reihe, zeigen auf exemplarische Weise, was die Rezeption der Barkerschen Texte so schwierig macht: sie wirken subversiv, und dies in mehrfachem Sinne. Das eine führt uns in ein nicht näher bezeichnetes Inselland, das aus strategischen Gründen von einer kleinen britischen Garnison besetzt gehalten und von einem senilen Gouverneur und seiner mannstollen Tochter verwaltet wird. Es ist eine surreale Wüstenlandschaft, in der es keine einheimische Bevölkerung zu geben scheint. Wir erleben die Ankunft einer kleinen Gruppe von Reisenden: drei Damen des leichten Gewerbes, die den Soldaten zu Diensten sein sollen, ein Geschäftsmann, ein Spion und ein mysteriöser Jongleur, der sich als Revolutionär entpuppt, die alte Ordnung stürzen und ein ‘Neuengland’ begründen möchte. Seine Ideen von einer vorstellbaren besseren Ordnung, einem anarchischem Jenseits von autoritärem Zwang, werden als Bedrohung durchschaut. Die nymphomanische Tochter des Gouverneurs versteht es auf ihre Weise, den revolutionären Geist zu schwächen; zwei Agenten der britischen Regierung sorgen für seine Liquidation.

Was zunächst aussah wie ein harmloser Ausflug in die großbritische Vergangenheit, wird zum Reflex einer moribunden Gegenwart, dem Vexierbild einer Gesellschaft, die allen kreativen gesellschaftlichen Impulsen den Garaus macht.

Auch das zweite Stück mit dem Titel ‘The Castle’ blickt nur scheinbar zurück auf eine historische Vergangenheit, die, wie wir glauben könnten, mit unserer Gegenwart und Zukunft wenig zu tun hat: in die Zeit der mittelalterlichen Kreuzritter. Eine Gruppe von martialischen männlichen Gestalten kehrt nach siebenjährigem Raubzug durch Südosteuropa und den Vorderen Orient in die englische Heimat zurück, wo inzwischen die Frauen eine Form des herrschaftsfreien Zusammenlebens entwickelt haben, eine Bastion der Weiblichkeit, die sie bis in den Tod zu verteidigen entschlossen sind. Die heimkehrenden Krieger fordern ihre alten Rechte zurück. Daraus entwickelt sich ein gigantischer Kampf der Geschlechter, ein Kampf zwischen der destruktiven Gewaltherrschaft des Patriarchats und einer matriarchalen, auf Mitgefühl, Liebe und kreativer Phantasie basierenden gewaltfreien Ordnung der Frauen.

Der Titel des Stückes ‘The Castle’ bezieht sich zunächst auf die mächtige Festung, die der Feudalherr von einem arabischen Architekten, den er nach England entführt hat, sich bauen läßt, wird jedoch bald zu einer Metapher, die auch viele andere Bedeutungen hat. “Ich bin die Festung“, erklärt eine der Anführerinnen der weiblichen Rebellion, “ich lebe hier“. Der Aufstand der friedfertigen Amazonen findet ein blutiges Ende, in einem weiblichen Massenselbstmord, dem das brutalisierte Mannsvolk fassungslos gegenübersteht. Der anarchische Impuls, die Energie des Irrationalen wird wieder gewaltsam unterdrückt; die Leben stiftende Ordnung unterliegt der Leben vernichtenden patriarchalen Gewalt.

Diese wahrlich subversiven Ideen finden Ausdruck in einer radikalen, subversiven dramatischen Form. Barkers essayistische Schreibweise, die Erfindung von ebenso bizarren wie vertraut anmutenden Charakteren, die sich gewissermaßen selbst überlassen bleiben, den Gang der Ereignisse nach eigenen Regeln zu betreiben scheinen, wie auch die reich stilisierte, mit sexuellen Metaphern durchsetzte radikale Sprache treffen das Publikum unter die Gürtellinie des rationalen Bewußtseins, erzeugen eine Verunsicherung, die mit Furcht und Schrecken erfüllt, weil uns die Möglichkeit der schnellen Zuordnung – eine Distanzierung, die uns hilft, sich den Konflikten zu entziehen, auf die wir uns einlassen sollten, um sie zu verstehen – versagt bleibt.

Der Kritiker des ‘Guardian’ sprach nach der Premiere von Barkers ‘Castle’ von dem – neben David Hares ‘Pravda’ – “erregensten neuen Theaterstück in London”, mit ganz offensichtlichen starken Parallelen zu der Idee des Frauenfriedenslagers Greenham Common, ein Stück, “das in der Form einer historischen Parabel die vitale moralische Frage stellt: wie weit können (und sollten) Frauen gehen, um die Werte unserer Gesellschaft zu ändern?“.

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