Als die Pip Simmons Theatre Group, seit 1969 eine der besten, künstlerisch produktivsten Gruppen der englischen Theateravantgarde, nach zweijähriger Abwesenheit im Juli nach London zurückkehrte und im Institut für zeitgenössische Kunst Ihre jüngste Inszenierung ‘An die Musik’ vorstellte, wurde sie mit Jubel begrüßt. ‘An die Musik’, ein Requiem für die in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden, war ein entsetzliches Schauspiel von Greueln, die Menschen an Menschen begehen. Es zeigte die sukzessive Animalisierung von Menschen in der Rolle von Opfern und Henkern.
Die neue Show der Pip Simmons Theatre Group ‘Der Traum eines Lächerlichen’ basiert auf einer Kurzgeschichte von Dostojewski und entwirft ein paradiesisches Jenseits der Angst und Not, die Utopie irdischen Glücks. Der Lächerliche des Titels ist einer, der mit dem Leben nicht fertig wird, von teuflischen Wahnbildern in den Selbstmord getrieben wird und seinen Tod als bösen, wunderbaren Traum erfährt, aus dem er erwacht als ein anderer, ein neuer Mensch, der ein Paradies gesehen hat, Vorschein einer Welt, in welcher Schönheit, Liebe, Wahrheit und Glück regieren. Er hat die Hoffnung entdeckt auf ein erfülltes Leben. Der Traum des lächerlichen, verlachten, unglücklichen Mannes kann (so wird unterstellt) in Erfüllung gehen, denn (wie es in dem hinreißend lapidaren Schlußlied heißt) “es kommt nur an auf mich und dich” ... “Jeder braucht den Traum vom Paradies; wenn jeder wollte, würde es Wirklichkeit”.
“Warum seid ihr hierhergekommen?”, fragt einer der Darsteller am Anfang des Stückes, “Glaubt ihr, das wird euer Leben ändern?” Mit grotesk statutarischen Tanzschritten bewegen sich die Darsteller um einen verängstigten, hilflosen Mann. Verwirrende Bilder schrecken und necken ihn. Der Stern, den er am Himmel zu sehen glaubt, Symbol der Hoffnung, wird ihm als brennende Wunderkerze gereicht, die er vergeblich in die Hosentasche zu stecken versucht. Angst wächst ihm über den Kopf, und er zertritt das Funken sprühende Licht. Höhnisches Gelächter um ihn herum, Jahrmarktsgetöse. Quälende Geister folgen ihm in den Schlaf, spotten seiner Verzweiflung mit ironischen Liedern und versprechen Erlösung von allen Übeln der Welt. Auftritt des schwarzen Riesen, einer gigantischen Gestalt auf Stelzen mit wehendem Mantel, wild drohenden Gebärden, welcher seinem Opfer den Revolver aufzwingt, der seine Leiden enden soll.
Der Schuß trifft ins Herz, der Mann sinkt zu Boden; hilfreiche Hände fangen ihn auf, halten ihn dem Giganten entgegen, der ihn auf seinen Armen wiegt wie ein Neugeborenes. Zu ironisch zeremonieller Musik legt man dem Toten das Leichenhemd an, stößt ihn in den Sarg, der auf riesigen Kirchenkerzen herangerollt ist. ”Und dann lag er in der Erde”, heißt es, “bis er aufschrie zu seinem Herrn: Gib mich frei!“. Ein glitzernder Derwisch springt mit artistischen Überschlägen auf die Bühne, mißhandelt den Toten, reißt ihn aus dem Sarg und tanzt mit ihm einen gespenstischen Pas-de-Deux.
Nebelschwaden und sphärische Musik. Die Szene verwandelt sich zum Zirkus: schwingende Trapeze, Jongleure auf Leitern, Blasmusik. Einem Käfig hoch unterm Dach werden zwei weiße Tauben entnommen, dem Mann im Leichenhemd überreicht: Signal zum Übergang in eine andere Welt. Papierpalmen wachsen aus dem Boden; Musik der Südseeinseln, Sonne, exotische Früchte und Vögel, braune Menschen mit glücklichen Gesichtern, “stille Ekstase der Ewigkeit“. Halbnackte Mädchen mit Blütenkränzen entkleiden den Neuankömmling; erotische Träume werden wahr.
Die Szene erstarrt. Plötzlich Stille. “Das war doch kein Traum, nicht wahr?“ schreit der Genarrte. Gelächter antwortet. Ein Bündel alter Kleider fliegt ihm entgegen; der Mann zieht sich an: Rückkehr zum Alltag. Die nackten Grazien haben sich abgewandt; obszöner Strip-Tanz zu aggressiver Bar-Musik. Der Mann greift in ein Gerüst, ein gewaltiges Lichterkreuz, das er auf die Mitte der Bühne trägt. Höllische Gestalten umtanzen das riesige Kruzifix. Verklärung.
Und dann das Erwachen. Ernüchterung. Der prosaische Abstieg vom Kreuz wird zur Wiedergeburt. Der Mann hat den Tod überwunden und ein Paradies gesehen. Er hat die Möglichkeit von Glück erfahren. Er hat ein Ziel.
Pip Simmons’ ‘Traum eines Lächerlichen’ ist ein Märchen mit Hintersinn und Blick nach vorn, Abbild menschlichen Leidens und Utopie einer besseren Welt.
Das artistische können der Pip Simmons Theatre Group, die Kraft und Lebendigkeit, Musikalität und szenische Phantasie sowie die einzigartige Vielseitigkeit ihrer neun tanzenden, singenden, musizierenden Schauspieler-Akrobaten machen jede Vorstellung der Gruppe zu einem theatralischen Fest, von dem man glücklicher, besser, bewußter, hoffnungsvoller nach Hause zurückkehrt.