die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 240
Autor Harold Pinter
Theater
Titel Mountain Language
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie Harold Pinter
Uraufführung
Sendeinfo 1988.10.21/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/RIAS/HR (teilw.)/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Schon das erste Stück Harold Pinters, der 1957 geschriebene Einakter ‘The Room’, enthalte bereits die Grundthemen, die für die späteren Werke des Autors charakteristisch seien, schrieb Martin Esslin Anfang der Sechzigerjahre. Zu diesen ”Grundthemen” und “persönlichen Stilformen” gehöre: “die Genauigkeit bei der Wiedergabe des Tonfalls der sich endlos wiederholenden Banalität alltäglicher Gespräche“, “Alltagssituationen, die nach und nach von Drohungen, Schrecken und Geheimnis überflutet werden“ und der “Verzicht auf eine Erklärung oder Motivierung“.

Pinters jüngstes Stück ‘Mountain Language’ (Bergsprache) gibt zu erkennen, welchen Weg der Autor in drei Jahrzehnten gegangen ist. Das Stück ist nur zwanzig Minuten lang und besteht aus vier kurzen Szenen. Die erste spielt vor einer hohen Betonwand am Eingang eines Gefängnisses, die übrigen in seinem Inneren.

Eine Reihe von Frauen wartet auf Einlaß zu ihren gefangen gehaltenen Männern. Seit acht Stunden stehen sie dort, im Schnee. Eine ältere Frau blutet an der Hand; sie ist von einem Wachhund gebissen worden. Eine jüngere Frau bemüht sich um sie. Ein Sergeant und und ein Offizier stellen Fragen und weisen daraufhin, daß ihnen, den “Leuten aus den Bergen“, streng verboten ist, die eigene Sprache zu benutzen. Erlaubt sei nur die “Sprache der Hauptstadt“.

In der zweiten Szene sitzt die ältere Frau ihrem Sohn gegenüber, darf aber nicht mit ihm sprechen, weil sie nur die verbotene Sprache kennt. Was bleibt, ist der Versuch eines inneren Dialogs. Bei halb abgeblendetem Licht hören wir die Stimmen der beiden: der Sohn sorgt sich um die Verletzung der Mutter, sie möchte ihm sagen, wie sehr man ihn zuhause vermißt.

Die dritte Szene zeigt, wie die jüngere Frau ihren Mann nach einem Folterverhör wiederfindet. Sie sieht ihn aus der Ferne, gestützt von zwei Wärtern, mit einem Sack über dem Kopf. Auch hier gibt es nur das lautlose Zwiegespräch, die Erinnerung an einen glücklichen Augenblick der Vergangenheit. Der Gefangene bricht zusammen und wird weggeschafft.

Die vierte und letzte Szene führt zurück ins Besucherzimmer, wo sich Mutter und Sohn noch immer schweigend gegenübersitzen. Der Mann ist vornüber gesunken, sein Gesicht blutüberströmt. Sie dürfe jetzt sprechen, auch in der eigenen Sprache, sagt der Wachsoldat; “neue Weisung“,“bis auf weiteres“. Der Sohn wendet sich an die Mutter, wiederholt das Gesagte, immer und immer wieder. Die Mutter schweigt, starrt reglos auf den Sohn. Auch die innere Sprache ist verstummt. Es gibt nichts mehr zu sagen. Es gibt nichts mehr zu verstehen. Der Gefangene beginnt zu zittern, stöhnt und stürzt von seinem Stuhl. Der Sergeant kehrt zurück, blickt auf den am Boden liegenden Gefangenen und spricht: “Nun sieh dir das an. Man tut, was man kann, um ihnen zu helfen, und sie verderben sich alles“.

‘Mountain Language’ ist eine Meditation zum Thema Unmenschlichkeit. Die Situation ist auf das Wesentliche verkürzt, das Ritual der Gewalt, die alltäglich geworden ist, sich endlos wiederholt und mit grausamer Genauigkeit wiedergegeben wird. Die alltägliche Situation ist das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, das alltägliche Thema heißt Vergewaltigung.

Gewalt hat ihre eigene ‘Sprache’ entwickelt. Zu Ihrem Vokabular gehören die bürokratische Erfassung; die Verunsicherung, Beschimpfung, Verhöhnung, Bedrohung der Opfer und die Anwendung physischer Gewalt; der obszöne Witz; die formale Gewährung eines Beschwerderechts, jedoch nur für den Fall, daß man den Namen des Hundes, von dem man gebissen wurde, nennen kann; die verschiedenen Formen des sexuellen Mißbrauchs, die verbale und wirkliche Vergewaltigung; die Unterbindung jeglicher Kommunikation durch das Verbot der eigenen Sprache und damit Zerstörung der Identität der Opfer; ihre körperliche und geistige Vernichtung.

Statt der “Alltagssituationen, die nach und nach von Drohung, Schrecken und Geheimnis überflutet werden“, ist die Situation selbst das Bedrohliche, Schreckliche. Sie ist von Menschen gemacht und ohne “Geheimnis”. Die Mörder sind kenntlich und unter uns; in der Inszenierung des Autors tragen sie britische Uniformen; es könnten auch amerikanische, deutsche, südafrikanische oder israelische sein. Und es bedarf keiner weiteren “Erklärung oder Motivierung”, um zu verstehen, worum es Harold Pinter geht, der sich – wie ‘Mountain Language’ beweist – inzwischen auch vor Stücken klaren politischen Inhalts nicht mehr zu fürchten scheint.

Der Autor teilt mit, daß er einen Teil der ihm aus den Aufführungsrechten zustehenden Tantiemen dem Fond des englischen PEN-Clubs für inhaftierte Schriftsteller übergeben wird.

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