Der Auftritt des Berliner Ensembles mit ‘Troilus und Cressida’ und ‘Der kaukasische Kreidekreis’ beim diesjährigen Edinburgh Festival hat dem Theater überwiegend sehr freundliche, teilweise überschwenglich positive Kritiken eingebracht. Daß die drei Vorstellungen von ‘Troilus und Cressida’ vor halb leerem Hause stattfinden mußten und ein Teil der Zuschauer noch in der Pause die Flucht ergriff, wird bald vergessen sein; das Lob der Kritiker aber wird aufbewahrt und der Theatergeschichte überliefert werden. Und weil die Zeitungen so überzeugend von der “Brillanz eines wiedererstarkten Berliner Ensembles” und dem “bewundernswerten Ekkehard Schall”, “dem großen deutschen Schauspieler“, sprachen, wird später keiner mehr wissen, wie enttäuschend und deprimierend für den, der das Ensemble aus besseren Zeiten kennt, diese Wiederbegegnung sein mußte.
Übertriebene Ehrfurcht vor dem berühmten Namen eines Theaters, das vor vielen Jahren einmal weltweite Anerkennung verdiente, und die einfache Tatsache, daß keiner der britischen Kritiker, die über die Aufführungen des Berliner Ensembles in Edinburg berichteten, die deutsche Sprache verstand, den Stücken daher nur mithilfe der Übersetzungsanlage folgen, also nicht merken konnten, was die Schauspieler auf der Bühne mit dem Text ihrer Rollen trieben, waren schuld daran, daß die Kritiker fast ohne Ausnahme Opfer eines Etikettenschwindels wurden.
Was im offiziellen Festspielprogramm als “neue Inszenierung” des ‘Kaukasischen Kreidekreises’ angekündigt worden war, entpuppte sich als elf Jahre alter Ladenhüter; eine Aufführung, bei der nun wirklich gar nichts dazu berechtigt, sie für eine “autorisierte Fassung” des Werkes zu halten (wie die Kritik naiverweise unterstellte); eine Aufführung, die von der Poesie des Stückes so gut wie nichts mehr übrig ließ und insgesamt so formlos wirkte, daß in mehreren Kommentaren darüber gerätselt wurde, ob dieser “vollblütige emotionale Stil” etwa als neue künstlerische Wende des Ensembles zu werten sei.
Nie zuvor ist mir eine Aufführung des Berliner Ensembles so undiszipliniert und schmierentheaterhaft erschienen. Was sich der schon immer maßlos überschätzte “große deutsche Schauspieler“ Ekkehard Schall in der Rolle des Azdak hier leistete, ließ sich an Unverschämtheit dem Werk wie dem Publikum gegenüber nicht überbieten. Schall spricht nicht, sondern bellt, quetscht, gurgelt, schnarrt lange Passagen in rasendem Tempo herunter, sinnlos und unverständlich, schreit oder nuschelt, verspricht sich immer wieder, extemporiert, suhlt sich in der Rolle auf fast ekelerregende Weise. “Eine Darstellung von gewinnendem Überschwang“, nannte das der Kritiker der ‘Times’. Mir fiel dazu anderes ein.
Sprach man mit Festspielbesuchern über die Veranstaltungen des Festival Fringe und was sie da in diesem Jahr besonders beeindruckt hatte, konnte man immer wieder hören: “Haben Sie ‘Hauptmann’ gesehen? Eine der besten Aufführungen des Rahmenprogramms”. Gemeint war das Stück des jungen amerikanischen Autors John Logan in der Inszenierung der Chicagoer Stormfield Theatre Company. Es ist die Geschichte des deutschen Emigranten Bruno Richard Hauptmann, der 1936 als Mörder von Charles Lindbergh Jnr. , dem Sohn des berühmten Ozeanfliegers, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde.
Nach eingehendem Studium der Gerichtsprotokolle und Presseberichte über “das meist publizierte Verbrechen im Vorkriegs-Amerika” war John Logan zu der Überzeugung gelangt, daß Hauptmann Opfer eines Justizmordes wurde. Neues, von der Polizei bewußt unterdrücktes, erst in den letzten Jahren bekannt gewordenes Beweismaterial hat die Ehefrau Hauptmanns veranlaßt, einen Prozeß zur Ehrenrettung ihres Mannes anzustrengen. John Logan läßt uns den Fall aus der Perspektive des Verurteilten sehen, der in der Todeszelle auf seine Hinrichtung wartet und in Rückblenden die Umstände der Entführung des Lindbergh-Babys beschreibt.
Das Stück macht plausibel, daß Hauptmann, der in Deutschland wegen kleiner Vergehen vorbestrafte, illegal in die USA eingewanderte Schreiner für die von den Medien aufgeputschte Öffentlichkeit zum bestgehaßten Mann der Vereinigten Staaten und für die nach zweieinhalb Jahren vergeblicher Fahndung frustrierte Justiz zum Sündenbock werden konnte. Denis P. O’Hare, dem Darsteller der Titelrolle, ist es zu verdanken, daß man die Geschichte des unter die Räder der amerikanischen Justiz geratenen kleinen Mannes so schnell nicht vergessen wird.
“Wenn ich sage, daß eine der eindrucksvollsten Solo-Akte, die ich je gesehen habe, sich auf eine Frau bezieht, die in schweren Stiefeln und roter, mit einem Socken vorn ausgestopfter Männerunterhose über die Bühne poltert, könnten Ihnen Zweifel kommen”, schrieb die Theaterkritikerin der Londoner Zeitung ‘The Independent’ zur britischen Erstaufführung des Stückes ‘Jacke wie Hose’ von Manfred Karge im Traverse Theatre, das Jahr für Jahr für einige der besten Inszenierungen des Edinburgh Festival Fringe sorgt und diesmal vor allem durch Tilda Swinton in der Rolle des Kranführers Max Gericke von sich reden machte. ‘Man To Man. A One Woman Show’ heißt der Titel des Stückes in der englischen Übersetzung von Anthony Vivis. Unter der Regie von Stephen Unwin wurde es zu einem der Höhepunkte der schottischen Festspiele.
“Karges Stück ist eine Meditation über die Taktiken des Überlebens einer Frau, die auf die Hitlerjahre zurückblickt und dabei ein zuweilen schmerzhaftes Geständnis ablegt über ihr Leben, das sie zum größeren Teil gegen ihre eigenen Natur als Mann geführt hat”, hieß es in der Zeitung ‘The Guardian’. Der Kritiker des ‘Observer’ sprach von einem “deutschen Märchen für unsere Zeit”, der “Geschichte einer verlorenen Identität”. Und über Tilda Swinton, eine der großen schauspielerischen Entdeckungen der letzten Jahre: ”Sie ist eine Darstellerin von großer natürlicher Anmut, ohne Tricks und falsches Getue, die perfekte Interpretin eines schwierigen, ergreifenden und stellenweise sehr komischen Textes”.