die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1985
Text # 214
Autor Victor Hugo/Alain Boublil & Claude-Michel Schönberg
Musical
Titel Les Misérables
Ensemble/Spielort Barbican Theatre/Royal Shakespeare Company/London
Inszenierung/Regie Trevor Nunn & John Caird/Bühnenb.: John Napier
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1985.10.10/SWF Kultur aktuell/ORF Wien/SRG Basel 1985.10.11/DLF/Nachdruck: Darmstädter Echo

Nach dem großen Erfolg der in London und New York preisgekrönten Dramatisierung des Dickens-Romans ‘Nicholas Nickelby’ hat Trevor Nunn mit demselben Regieteam, das auch aus Andrew Lloyd Webbers ‘Cats’ und ‘Starlight Express’ Millionengewinne zu machen verstand, eine englische Fassung des französischen Musicals ‘Les Misérables’ von Alan Boublil und Claude-Michel Schönberg herausgebracht. Text und Musik des vor fünf Jahren in Paris uraufgeführten Werkes wurden eingehend bearbeitet und durch eine Reihe neuer Songs erweitert. Und erstmals in der Geschichte der Royal Shakespeare Company kam es zu einer Koproduktion mit einem privaten Unternehmer, der zwei Drittel der auf 3,5 Millionen Mark geschätzten Kosten der Inszenierung aufbrachte und dafür an den Gewinnen partizipieren soll, die man nach einer Laufzeit von acht Wochen, wenn die Aufführung vom Barbican Theatre in ein Theater des Londoner Westends übersiedeln wird, einzuspielen hofft.

Das Thema konnte kaum aktueller sein: Not und Elend der Massen, wachsende Kriminalität, die blutige Niederschlagung einer Rebellion. Während die Royal Shakespeare Company den Aufstand gegen die Obrigkeit in Paris des Jahres 1832 probte, errichteten Jugendliche in den Straßen von London Barrikaden aus brennenden Autos, bombardierten mit Molotow-Cocktails die in Kampfformation gegen sie einschreitende Polizei, gab es Tote auf beiden Seiten, blieb die Mehrheit des Volkes, verschreckt und entmutigt, empört oder eingeschüchtert, in der Rolle des hilflosen Zeugen einer Gewalttätigkeit, die – trotz aller Unterschiede zwischen dem Frankreich unter der Herrschaft des Bürgerkönigs Louis Philippe und dem England unter der Herrschaft der Margret Thatcher – damals wie heute Symptom derselben sozialen Krankheit war und ist: der mit der Not der einen erkaufte Wohlstand der anderen.

“Solange nach Gesetz und Sitte eine soziale Verdammnis besteht, die künstlich inmitten der Zivilisation Höllen schafft“, schrieb Victor Hugo in einem Vorwort zu seinem Roman ‘Les Misérables’, “solange es auf Erden Unwissenheit und Elend gibt, können Bücher dieser Art nicht ohne Wert sein“.

Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts bis zu den Pariser Arbeiteraufständen von 1832 bis 1834 erzählt der Roman die Lebensgeschichte des ehemaligen Galeerensträflings Jean Valjean, ein Märtyrer seiner Zeit, dem Viktor Hugo ein literarisches Heiligendenkmal setzte. Jeder Franzose – so heißt es im Programmheft zur britischen Erstaufführung des Musicals – kenne den Roman des größten französischen Dichters bis in alle Einzelheiten, während die meisten Engländer kaum seinen Titel aussprechen könnten. Darum sei es wichtig gewesen, vor allem die Handlung klar herauszuarbeiten. Sie mußte drastisch verkürzt und vereinfacht werden, was die trivialen, melodramatisch-pathetischen Züge verstärkt und die zum Teil wahrlich unwahrscheinlichen Vorgänge nicht gerade glaubhafter gemacht hat.

Valjean ist der typische romantische Held, der nach seiner Bekehrung durch den Bischof von Digne nur noch edelmütig handeln kann, die verarmte Fantine vor dem Gefängnis bewahrt und ihr auf dem Totenbett verspricht, ihre Tochter Cosette aus der Gewalt der bösen Pflegeeltern zu befreien und sie bei sich aufzunehmen, und der schließlich – selbst ständig auf der Flucht vor dem niederträchtigen Polizeioffizier Javert, der hier die Rolle des klassischen Bösewichts spielt – wiederum unter Einsatz des eigenen Lebens den bei den Barrikadenkämpfen schwer verwundeten Geliebten Cosettes rettet und so der phantastischen Geschichte zu einem rührseligen Happyend verhilft.

Das wie eine Oper durchkomponierte Musical enthält neben schmalzigen Weisen, die manchmal an alte Operettenschlager, manchmal an die pathetischen Liebeslieder eines Tom Jones erinnern, auch ein paar wirklich hübsche Melodien und schmissige Chorgesänge, die bemerkenswert gut gesungen werden und beim Publikum viel Beifall fanden. Die Regisseure Trevor Nunn und John Caird haben das ganze auf der fast ununterbrochen bewegten Drehbühne des Barbican Theatre effektvoll in Szene gesetzt, mit gewaltigen fahrbaren Aufbauten aus Holz und Stahl, die zunächst wie ein großer Abfallhaufen wirken, in dem die ärmsten der Armen hausen, und später, gedreht und ineinander verkeilt, eine riesige Barrikade bilden, auf der die aufständischen Studenten und Arbeiter in theatralischer Pose ihren Heldentod sterben (Bühnenbild: John Napier).

“Die Differenz zwischen Hugos Roman und diesem Musical ist die Differenz zwischen Genie und Talent“, schrieb der Kritiker des ‘Guardian’ nach der Premiere. – “Den Regisseuren Nunn und Caird gelingt es, so geschickt etwas darzubieten, daß uns die Banalität des Dargebotenen verborgen bleibt”, hieß es im ‘Daily Telegraph’. – Und der Kritiker der ‘Times’ meinte: “Viel Talent, Energie und Geld sind in diese Inszenierung geflossen, die doch nur die Regel bestätigt, daß Musicals alles, was sie anfassen, trivialisieren ... Mein positivstes Gefühl an diesem Premierenabend war Dankbarkeit, daß ich dadurch veranlaßt wurde, das Buch zu lesen”.

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