die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1974
Text # 74
Autor David Lan
Theater
Titel Bird Child’
Ensemble/Spielort Theatre Upstairs/London
Uraufführung
Sendeinfo 1974.04.25/SWF Kultur aktuell 1974.04.27/ORF Wien

‘Bird Child’ von David Lan ist das zweite Stück des 21-jährigen südafrikanischen Autors, das innerhalb eines Monats an einem Londoner Theater uraufgeführt wurde. Nach dem beachtlichen Erfolg seines Bühnenerstlings ‘Painting a Wall’ als Lunchtime-Inszenierung des Almost Free Theatre brachte dasTheatre Upstairs jetzt die Premiere des Schauspiels ‘Vogelkind’

Das Theatre Upstairs im Dachboden des renommierten Royal Court, als dessen künstlerisch unabhängig geleitete Studiobühne es angesehen werden kann, hat in den zehn Jahren seines Bestehens vielen jungen Autoren, Regisseuren und Schauspielern als Sprungbrett ihrer Karriere gedient. Die besten und progressivsten Theatergruppen des Landes haben hier ihre Inszenierungen vorgestellt, – Namen und Gruppen, die das englische Theaterleben der sechziger und siebziger Jahre wesentlich mitgeprägt haben. Nicht zufällig wurden im Theatre Upstairs auch die Stücke des weißen Südafrikaners Athol Fugard erstmals im Ausland, erstmals unter regulären Bedingungen aufgeführt und ebneten den Weg für Fugards südafrikanische Trilogie, die der Autor Anfang des Jahres für die große Bühne des Royal Court inszenieren durfte; von dort wanderten die Stücke weiter nach New York, von wo sie vor einigen Tagen in ein Theater des Londoner Westends zurückgekehrt sind.

Der Autor und Regisseur Athol Fugard ist in wenigen Jahren zum berühmten Mann geworden. David Lan, sein junger Landsmann, studiert zur Zeit Sozialwissenschaft an der London School of Economics, ein hoch gewachsener, schmächtiger Junge mit großem wirren Lockenkopf, der bei der Aufführung unerkannt unter den Zuschauern saß und aufgeregt jeden Satz seines Stückes lautlos mitsprach.

‘Bird Child’ spielt in Kapstadt, Südafrika. Anna, ein junges Mädchen, hat ihr Zuhause verlassen und lebt mit einem Studenten zusammen. Als sie schwanger wird, findet eine seltsame Veränderung ihres Wesens statt: Sie entwickelt ein soziales, politisches Bewußtsein. Mit ebenso viel Naivität wie Entschlossenheit demonstriert sie gegen die Vertreter der herrschenden Macht und deren Exekutivorgane, die Polizei, welche die Befolgung der inhumanen gesetzlichen Vorschriften überwacht.

Der Zufall will es, daß sie nach einer Demonstration für eine schwarze, die man wegen unerlaubter Beherbergung ihrer Söhne verhaftet hat, von demselben Polizeioffizier verhört wird, der ein Verhältnis mit Annas Mutter hat, die von ihm sogar schwanger ist. Die Szene, in welcher das Mädchen dem Polizeioffizier vorgeführt wird, erinnert an Kreons Verhör der Antigone. Das Wortduell, der Zusammenprall zweier Welten, wird zum Höhepunkt des Stückes, das durch Randereignisse und zahlreiche Andeutungen Südafrikas soziale Verhältnisse beleuchtet, die Ideologie des Establishments, Taktiken der staatlichen Kontrolle und die große Sehnsucht der Jungen nach wirklicher Freiheit und Gleichheit, – auch der Rassen. Es gewährt Einblick in Lebensweise und Denkformen der weißen Kleinbürger, zeigt Opportunismus, Feigheit, Lächerlichkeit, aber auch Schläue derer, die um den Verlust ihrer Privilegien bangen, und naiven, blindwütig törichten Idealismus der anderen, die mit untauglichen Mitteln gegen die staatliche Gewalt kämpfen und sich dabei blutige Nasen holen.

In keinem schlechten Sinne ist ‘Bird Child’ ein typisches Anfängerstück, dem man einen Regisseur gewünscht hätte, der in der Lage gewesen wäre, den Autor im Hinblick auf notwendige Striche zu beraten, die Konzentration auf die Hauptlinie des Stückes, das eigentliche Thema, nämlich die Entwicklung eines sozialen Bewußtseins, das zu politischem Handeln zwingt, sowie das Problem, privilegiert zu sein in einer Gesellschaft, die mit zweierlei Maß mißt. ”Sie sind doch eine Weiße, Sie sind doch nicht blöd”, sagt der intelligente Polizeioffizier, dem der Autor in der glänzend geschriebenen Schlüsselszene einige der bemerkenswertesten Passagen des Stückes überläßt. Der Colonel geht davon aus (und, wie es scheint, mit guten Gründen), daß seine Seite, das Establishment, vorläufig keinem Gegner unterliegen werde: sie hat nicht nur alle militärisch-politische Macht, sondern auch die Kontrolle über die Kommunikationsmittel, das Erziehungssystem und über den Spielraum kalkulierter Toleranz, die sie den jugendlichen Liberalen im Lande gewährt, als deren Vertreter wir David Lan, den Autor, sehen dürfen.

Vieles deutet darauf hin, daß mit David Lan ein neues Bühnentalent heranwächst, das vielleicht noch von sich reden machen wird.

 

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