die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1977
Text # 114
Autor Howard Brenton
Theater
Titel Epsom Downs
Ensemble/Spielort Joint Stock Theatre Company/Roundhouse/London
Inszenierung/Regie Max Stafford-Clark
Uraufführung
Sendeinfo 1977.08.09/SWF Kultur aktuell/DLF/Nachdruck: Darmstädter Echo

‘Epsom Downs’ von Howard Brenton ist ein sehr englisches Stück über einen sehr englischen Gegenstand; ein Stück über Pferderennen auf den grünen Bahnen der sanft gewellten Hügel von Epsom; über eine jener nationalen Leidenschaften, die für den Nicht-Engländer so unfaßbar sind wie die skurrile Begeisterung für Cricket und Rugby, die sportlichen Extreme von bodenloser Langeweile und erschreckender Brutalität; ein Stück über Reitstallbesitzer, Jockeys, Trainer und Stalljungen; über Buchmacher, Polizisten und Trunkenbolde; über Väter, die alle Ersparnisse der Familie auf den Ausgang eines einzigen Rennens setzen und, wie im Traum, gewinnen; über Zigeunermädchen und Evangelisten, Bauchladenverkäufer und betrunkene Lords, Aga Khan und den Geist der Suffragette Emily Davisson, die am Derby-Tag des Jahres 1913 sich durch die Menge drängte und sich vor das Pferd des Königs warf, um auf diese Weise für die Gleichberechtigung der Frauen zu demonstrieren. Einer Art Querschnitt durch die englische Gesellschaft, die sich am Derby-Tag auf den grünen Hügeln von Epsom ein Stell-dich-ein gibt; ein buntes Gemisch aus allen Bevölkerungsschichten, ein nationales Volksfest im Zeichen scheinbaren Friedens. ”Die Tore des Paradieses öffnen sich auf das Blitzen eines Pferdehufes”: Hoffnung auf Erfüllung des großen Traums der von der Wettleidenschaft besessenen Spieler.

Ein Besuch Epsoms im vergangenen Jahr brachte Howard Brenton auf den Gedanken, in kaleidoskopartiger Form einen typischen Renntag zu schildern. In Zusammenarbeit mit Max Stafford-Clark und den Schauspielern der Joint Stock Theatre Company entstand eine Folge kurzer, farbiger Szenen, Ausschnitte aus einer Massenveranstaltung, Facetten einer Klassengesellschaft. “England im Frieden am Derby-Tag?“, ruft der Geist der toten Emily Davison, “Es ist ein Trugbild, hauchdünn – zerreißt es!”.

Die Spiel- und Wettleidenschaft des Volkes erscheint als verzweifelte Flucht vor den ungelösten Problemen der Wirklichkeit, Ausdruck der Ratlosigkeit und Angst. Zwei Evangelisten, eine vom Alkohol gerettete Jungfer und ein ehemaliger Glücksspieler, offerieren dagegen Religion, die Ausflucht in ein Paradies, das nicht von dieser Welt ist. Doch die Vertröstungen auf die Freuden des Jenseits scheinen nicht auszureichen. Die Missionare der lebenslustfeindlichen Botschaft fallen zurück in die alten Laster ihres sündigen Vorlebens.

Selbst der demonstrative Suizid der Suffragette erscheint sinnlos, denn ihr privater Protest ändert nicht die Gesetze, die sie in den Tod treiben.

“Ein Sieg im National ist mehr wert für Britannien als Kanonenboote auf dem Nil”, meint der betrunkene Labour-Lord. Wie mit den zahllosen Fernsehfilmen der letzten Jahre, die im Zeichen des Niedergangs das Volk an Englands einstige Größe gemahnen sollen, gibt sich die Nation mit den Renntag-Ritualen ein Fest, das die Sorgen der Zeit verdrängen soll.

Die Insassen einer nahe gelegenen Nervenheilanstalt kriechen am Ende des festlichen Tages über den grünen Rasen und sammeln den Abfall und Unrat ein, der auf der Strecke blieb.

Max Stafford-Clarks einfallsreiche Regie und das virtuos agierende Ensemble (neun Darsteller spielen 45 verschiedene Rollen) sorgen für den Zusammenhalt der kaleidoskopischen Szenenfolge.

Das Roundhouse, wegen seines weiten Innenraumes für Schauspielinszenierungen seit je problematisch, wurde von Hayden Griffin zur Arenabühne mit 800 Sitzplätzen umgebaut und soll der bislang vagabundierenden Joint Stock Theatre Company zum neuen Londoner Domizil werden.

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