die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 203
Autor Miles Malleson & Harry Brooks/John McGrath
Theater
Titel Six Men Of Dorset
Ensemble/Spielort 7:84/Shaw Theatre/London
Inszenierung/Regie Pam Brighton
Sendeinfo 1984.10.11/DLF/SWF Kultur aktuell/SR/Nachdruck: Darmstädter Echo

“Dies könnte die letzte Inszenierung des Theaters 7:84 England sein”, schreibt der Dramatiker und Regisseur John McGrath, Gründer und künstlerischer Leiter der Truppe, die wegen ihrer Popularität, ihres künstlerischen Erfolgs und ihrer kulturpolitischen Bedeutung jede denkbare staatliche Förderung verdient hätte, stattdessen durch jüngsten Beschluß des staatlichen Kunstrates in Zukunft keine Subventionen mehr erhalten wird, eine Entscheidung, die, wie die zahlreichen Freunde und Verehrer des Theater glauben, dem Ensemble den Garaus machen soll, aus eindeutig politischen Motiven – ein Akt der indirekten staatlichen Zensur. Denn 7:84 versteht sich als Theater für die Arbeiterklasse, also die Mehrheit der Bevölkerung, die normalerweise nicht ins Theater geht, Weil es nur für jene fünf bis zehn Prozent des gebildeten Mittelstandes da zu sein scheint, dessen geistige Welt es spiegelt. “Man will uns zum Schweigen bringen, weil wir der konservativen Regierung ein Ärgernis sind“, schreibt John McGrath im Programmheft zur vorläufig letzten Inszenierung der Truppe, “doch wir spielen weiter”.

Anläßlich der Feiern zum 150. Jahrestag der Deportation der sogenannten Tolpuddle-Märtyrer zeigt 7:84 (der Name des Theaters bezieht sich auf das bekannte Skandalon: 7% der Bevölkerung besitzen 84% der Güter des Landes) im Londoner Shaw-Theater. John McGraths neue Bearbeitung des Stückes ‘Six Men Of Dorset’ von Miles Malleson und Harry Brooks, eine Dramatisierung der Geschichte jener sechs Männer, die vor anderthalb Jahrhunderten Geschichte machten, ein Stück, das durch die Not der seit Monaten streikenden britischen Bergarbeiter und die Einführung neuer Gesetze, die sich wie Gummiknüppel gegen streikende Arbeiter und ihre Gewerkschaften gebrauchen lassen, besondere Aktualität gewonnen hat.

Sechs Landarbeiter des Dorfes Tolpuddle in der südenglischen Grafschaft Dorset schlossen sich vor 150 Jahren zur ersten britischen Landarbeitergewerkschaft zusammen, um eine Erhöhung ihrer Hungerlöhne von sieben auf zehn Schilling pro Woche durchzusetzen (nach heutiger Währung etwa 1.90 Mark). Obwohl die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft nicht mehr verboten war – man schrieb das Jahr 1834 und die Liberalen waren an der Macht – ließ die um die wachsende Solidarisierung des Proletariats besorgte Regierung die sechs Landarbeiter verhaften und nach einem alten Gesetz gegen Meuterei zu sieben Jahren Verbannung in der Strafkolonie Australien verurteilen. Der Fall wurde zum öffentlichen Skandal, es gab Protestkundgebungen im ganzen Land und riesige Demonstrationen, die schließlich dazu führten, daß die Verurteilten drei Jahre später nach England zurückkehren durften, wo sie mit großem Jubel empfangen wurden.

Zwar hatte es andere, ebenso drastische Fälle horrender Klassenjustiz gegeben – die Landarbeiterrevolte unter der Führung des berühmten Captain Swing hatte vier Jahre davor mit 19 Todesurteilen, über tausend Verbannungen und langjährigen Zuchthausstrafen ein schauriges Ende gefunden – doch die Geschichte der sechs Männer aus Dorset, die noch heute als ‘Tolpuddle-Märtyrer’ gefeiert werden, war nicht nur ein historisches Beispiel für die brutale Unterdrückung des Proletariats, sondern wurde auch zum Symbol des erfolgreichen Widerstandes gegen staatliche Willkür und Klassenjustiz.

Pam Brightons Inszenierung des Stückes ‘Six Men Of Dorset’ versucht nicht mehr zu sein als eine getreue Dokumentation der Geschichte, die durch das vertikal gegliederte Bühnenbild als Konflikt zwischen Oben und Unten sich darstellt. Die Stärke der Inszenierung liegt in der Schlichtheit der Präsentation. Daß ihre Botschaft mit Ruhe und Besonnenheit, ohne jede Aggressivität mitgeteilt wird, macht sie überzeugend. Die von den Darstellern gesungenen Lieder und Hymnen sprechen von Treue zu Gott und den Mitmenschen, von Vernunft, Freiheit, Einigkeit und Gerechtigkeit und erschütternd eindringlich und beschwörend vom brüderlichen Geist, dem Geist der Solidarität, welcher der in hundert Fraktionen zersplitterten britischen Gewerkschaftsbewegung weiß Gott zu wünschen wäre und an dem es ihr in so erschreckendem Maße mangelt

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