‘Die Troerinnen’ des Euripides sind der letzte Teil einer bis auf Fragmente verlorenen Troja-Trilogie, die vor fast zweieinhalbtausend Jahren uraufgeführt wurde, doch an Aktualität bis heute leider nichts verloren hat. ‘Die Troerinnen’ gelten als das älteste uns bekannte Antikriegsstück, eines der eindrucksvollsten Zeugnisse nicht nur gegen das, was wir euphemistisch als illegale “Übergriffe” im Zuge militärischer Auseinandersetzungen bezeichnen, also Verbrechen in Kriegen, sondern gegen das Verbrechen von Krieg schlechthin.
Im Sommer und Winter des Jahres 416 v. Chr. war es zu einem Ereignis gekommen, das für die damalige militärische Großmacht Athen keine unmittelbaren politischen Folgen zu haben schien, jedoch dem Selbstbewußtsein der stolzen Athener, die sich ihren Nachbarn auch in Kultur und Moral überlegen fühlten, einen empfindlichen Schlag versetzte.
Weil die Bewohner der kleinen Mittelmeerinsel Melos auf ihrer Neutralität bestanden und sich geweigert hatten, Athen in seinem Krieg gegen Sparta zu unterstützen, wurde die Insel von den Athenern besetzt und die gesamte männliche Bevölkerung ermordet. Alle Frauen und Kinder wurden als Sklaven abtransportiert. Das an den Einwohnern von Melos verübte Verbrechen war so offensichtlich, daß der griechische Historiker Thukydides dem militärisch an sich bedeutungslosen Ereignis sechsundzwanzig Kapitel in einem wichtigen Teil seines Werkes widmete.
Da ‘Die Troerinnen’ von Euripides unmittelbar nach dem Massaker geschrieben wurden, muß das Stück als Ausdruck des Entsetzens über die von seinen Landsleuten begangene Untat verstanden werden. Es beschwört die Folgen eines anderen griechischen Vernichtungskriegs, des Raubzugs gegen Troja, der in der Überlieferung als einer der ruhmreichsten griechischen Siege gefeiert wurde. Euripides läßt ihn mit den Augen der Opfer sehen, vor deren unermeßlichem Leid der Ruhm der Sieger verblaßt und als götter- und menschenverachtende Schandtat erscheint: Krieg als die jederzeit gegenwärtige Gefahr eines Rückfalls der menschlichen Zivilisation in tiefste Barbarei.
Hecuba, die trojanische Königin, ihre Tochter Kassandra, ihre Schwiegertochter Andromache und die Frauen von Troja, die das Gemetzel überlebten, warten auf ihren Abtransport in die griechische Sklaverei. Das Stück hat fast keine Handlung. Es beschreibt eine Situation, beschwört die Schrecken der unmittelbaren Vergangenheit und die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft, die die Frauen mehr noch fürchten als den Tod.
Als das Stück geschrieben wurde, bereitete die griechische Flotte gerade ihren großen Eroberungskrieg gegen Sizilien vor. ‘Die Troerinnen’ waren die unüberhörbare Warnung des Dichters an die Athener, daß die Risiken solcher Kriege unberechenbar seien. Man mißachtete die Warnung, und die sizilianische Expedition wurde Athen zum Verhängnis.
Jede neue Inszenierung des alten Stückes wird es vor dem Horizont der eigenen historischen Gegenwart sehen lassen. Wenn heute vom Wahnsinn des Krieges die Rede ist, wo zahllosen Menschen unermeßliches Leid geschieht, wo Mord, Vergewaltigung und Vertreibung tagtäglich geworden sind, auch wenn wir weniger und seltener davon erfahren. Und es liegt nahe, die Verbrechen der griechischen Großmacht mit den Verbrechen moderner Großmächte zu vergleichen, die kleineren Staaten mit Vernichtung drohen, wenn sie sich nicht freiwillig ihrem Willen beugen – sei’s in Vietnam, Nicaragua, El Salvador, Grenada, Tibet oder Tschetschenien.
Regisseurin Annie Castledine hat das Stück mit einem internationalen Ensemble – darunter Schauspielerinnen aus Frankreich, Persien, Japan und Bosnien – auf die große offene Bühne des Nationaltheaters gebracht. Schauplatz der Handlung ist ein ausgebombter Wohnblock, der mit seinen geborstenen Betonpfeilern, verbogenen Eisenstangen, zerschossenen Wänden und dunklen Fensterhöhlen symbolhaft für alle modernen Kriegsschauplätze steht. Die trojanischen Frauen kriechen verdreckt, in zerrissenen Kleidern oder verbluteten Militärmänteln und -jacken aus den Kellern von Ruinen ans Tageslicht. Die griechischen Eroberer sind bis an die Zähne bewaffnete amerikanische GIs; Menelaos tritt in der Uniform eines amerikanischen Admirals auf, die ihm entlaufende Helena als amerikanische Blondine im Marilyn-Monroe-Look mit weit ausgeschnittem, blütenweißen, durchscheinenden Faltenkleid und Stöckelschuhen.
Der von Kenneth McLeish hergestellte englische Text klingt schnörkellos modern. Die über mehrere Verszeilen laufenden Perioden sind in kurze Sätze aufgelöst, die oft wie im Telegrammstil oder wie Schlagzeilen gesprochen werden. Der Abgesandte der griechischen Heeresführung Talthybios, hier ein verschwitzter Sergeant mit kurzgeschorenem Schädel, wie auch Menelaos und Helena sprechen amerikanischen Prosa-Slang; und auch was die übrigen in freien Verse sagen, hört sich bei den meisten eher prosaisch an. Die Entpoetisierung macht das Gesagte realer, die Darstellung realistischer, schwächt aber dadurch die theatralische Wirkung.
Ein in der rechten hinteren Bühnenecke plaziertes Kammerorchester schafft musikalische Übergänge und setzt in den langen Klagereden der Frauen hier und da musikalisch-rhythmische Akzente.
Mich selbst beschlich, als ich mich während der Vorstellung im Publikum umsah, ein beschämendes Gefühl: Da war ein fast zweieinhalbtausend Jahre altes Stück, das nichts von seiner Aktualität verloren hatte, geschrieben von einem Dichter, der es verstand, Menschen, die sonst in ihrem Leid verstummen, sagen zu lassen, wie sie leiden. Doch ihr Leid, das so eindrucksvoll bildhaft beschworen wird, uns bis ins Innerste erschüttern und unser Denken und Tun nachhaltig verändern sollte, schien trotz oder wegen seiner Ungeheuerlichkeit nur die längst Sensibilisierten, die längst Überzeugten noch zu erreichen.
“Ganz interessant, nicht? Gibt einem zu denken“, hörte ich nach der Vorstellung ein junges Mädchen mit verlegenem Gelächter zu ihrer Freundin sagen. Und dann zogen sie, wie mir schien, von dem, was sie gehört und gesehen hatten, nicht im geringsten beeindruckt, kichernd und über private Belanglosigkeiten schwatzend, in den Abend hinaus.