Howard Barker, Jahrgang 1946, gilt als der kreativste und zugleich verkannteste englische Bühnendichter seiner Generation. Sein neues Stück ‘A Hard Heart’ spielt in einer nicht näher bezeichneten mittelalterlichen Stadt, die von Feinden belagert wird. In ihren Mauern herrscht große Not. Die Königin, Staatsoberhaupt und oberste Repräsentanten einer Kultur, die bei einem Sieg der Feinde unterginge, ist ratlos. In dieser verzweifelten Lage hat sie sich an eine Frau namens Riddler gewandt, die als Genie gilt. Wie die genialen Verteidigungsstrategien des Archimedes seine Heimatstadt Syrakus über viele Jahre vor der Eroberung durch die Römer schützten, so hofft man nun, daß der Erfindungsgeist der genialen Riddler die Stadt vor dem sicheren Untergang bewahren werde. Riddler stellt unerhörte Bedingungen. Sie verlangt und erhält absolute Autorität. Jedermann hat sich ihrer Weisung zu fügen.
In beispielloser Selbstherrlichkeit und Arroganz gebraucht sie die ihr übertragene Macht. Vom Bewußtsein ihrer göttlichen Unfehlbarkeit durchdrungen, reißt sie alle anderen mit. Doch ihre ‘genialen’ Erfindungen, die trickreichen Machenschaften und Täuschungsmanöver werden mit ungeheuren Opfern bezahlt, bleiben nach außen ohne Wirkung und zerstören buchstäblich das, was sie vor der Zerstörung schützen sollten: den königlichen Palast, den Tempel und damit den Inbegriff der geistigen Identität. Durch die zur Verteidigung erfundenen Maßnahmen richtet die belagerte Stadt sich selbst zugrunde.
In der Inszenierung von Ian McDiarmid bewegen sich die Charaktere in einem leeren Raum, einem Bühnengehäuse mit schräger Decke, deren Mittelteil herunter geklappt werden kann und dann wie ein riesiges Reißbrett erscheint, auf dem der Plan der Stadt mit ihren Befestigungsanlagen ausgebreitet ist. Die hinter der Deckenschräge versteckte Galerie wird wie der Rundgang einer Stadtmauer als hoch gelegener Aussichtsposten zur Beobachtung der Belagerer benutzt.
Die sieben Personen des Stückes tragen moderne Kleidung. Wenn sie sprechen, verschränken sich manchmal die Sätze; der Gesprächspartner unterbricht, führt den begonnenen Satz weiter, wird selbst auf ähnliche Weise wieder unterbrochen. So ergeben sich logische Sprünge, die den Gedankengang immer wieder auf Nebengeleise lenken. Was an linearer Konsequenz verloren gehen mag, wird durch Fülle der Details, die Wahrnehmung kleiner, unscheinbarer Gesten zurückgewonnen.
Die Abstraktheit des Bühnenraums, die Künstlichkeit der Sprache und das absurde Verhalten der Personen verweisen darauf, daß wir es nicht mit Ausschnitten aus dem wirklichen Leben zu tun haben, sondern mit einem Stück Theaterpoesie. Alles, was sich über seinen Inhalt sagen läßt, ist bereits Auslegung, Interpretation eines szenischen Gebildes, das auf die Mitspielbereitschaft des Zuschauers angewiesen ist; eines Gebildes, das – so wie ein aus gegenständlichen Elementen komponiertes ungegenständliches Werk der Bildenden Kunst – sich zwar auf viele konkrete Beobachtungen beziehen läßt, doch ohne daß man das ganze als einfache Allegorie bestimmter historischer Tatbestände deuten könnte.
Längst mag das Publikum sich an den Umgang mit ungegenständlichen Bildern gewöhnt haben und bei musikalischen Werken nie auf den Gedanken gekommen sein, nach dem Sinn einzelner Phrasen zu fragen. Nur im Theater glaubt es noch immer, die Bedeutung jedes einzelnen Satzes, jedes einzelnen Vorgangs sofort verstehen zu müssen.
“Das Theater muß anfangen, sein Publikum ernstzunehmen“, schrieb Howard Barker vor einigen Jahren. “Es muß aufhören, Geschichten zu erzählen, die es versteht”.
Sein neues Stück ‘Ein hartes Herz’ berührt sehr viele verschiedene Themen und läßt viele Deutungen zu. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, vergangenen oder gegenwärtigen Umständen und Ereignissen sind natürlich nicht nur zufällig. Die menschenverachtende Arroganz der selbstherrlichen Strategin Riddler, die bis zum bitteren Ende, von allen anderen längst als Versager durchschaut, an ihrem Unfehlbarkeitsanspruch festhält, wirkt so vertraut, weil wir sie an wirklichen Personen wahrgenommen haben. Es geht um Macht und Ohnmacht; um Verführung und Verführbarkeit; um heiße und kalte Kriege und ihre Opfer; um das Verhältnis zwischen denen, die Schicksal spielen, und denen, die es erleiden; um vieles andere, das uns betrifft.
Die Motive lassen sich nicht immer leicht entziffern und gar nicht so, daß wir sie mit dem Gefühl, endlich alles verstanden zu haben, beruhigt nach Hause tragen könnten. Aber die Mühe lohnt.