die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1993
Text # 279
Autor Thomas Bernhard
Theater
Titel The Showman (Der Theatermacher)
Ensemble/Spielort Almeida Theatre/London
Hauptdarsteller Alan Bates
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1993.05.18/SWF Kultur aktuell/RIAS/BR (B5) 1993.03.20/DS Kultur/Nachdruck: Darmstädter Echo (versch. Fassungen)

“Theaterkritiker – was für ein schöner Beruf!”, sagen die Leute, ahnungslos. “Man darf ins Theater gehen, wann immer man will, kriegt stets Freikarten. Nachher geht man nach Hause, schreibt gnadenlos nieder, ob man die Aufführung gut oder schlecht fand – und wird dafür auch noch bezahlt!“. In Wahrheit, glauben Sie mir, sieht die Sache ganz anders aus.

Stellen Sie sich vor, Sie lebten in London und hätten die Aufgabe mitzuteilen, was sich an den Bühnen der Weltstadt zuträgt, soweit ein deutsches Hörer- und Leserpublikum sich dafür interessieren mag. Sie haben einen Bericht verabredet über die britische Erstaufführung von Thomas Bernhards Schauspiel ‘Der Theatermacher’, das in einem der unternehmungsfreudigsten Theater der britischen Hauptstadt herauskommen soll, dem in diesem Jahr für “hervorragende künstlerische Leistung“ im Rahmen der Laurence-Olivier-Preisverleihung ausgezeichneten Nordlondoner Almeida Theatre. Es ist ein Ereignis, das nicht nur wegen seiner Starbesetzung mit Alan Bates in der Titelrolle Interesse verdient, sondern auch und vor allem weil der österreichische Autor in England bislang kaum gespielt worden ist und nun als “einer der bedeutendsten und originellsten Schriftsteller Europas” (so wörtlich in einer Ankündigung auf die Premiere) dem Londoner Publikum vorgestellt werden soll.

Da Sie Alan Bates wiederholt gesehen haben und ihn als sensiblen, intelligenten und sympathischen Schauspieler schätzen, sind Sie freudig erregt im Almeida-Theater angekommen, haben in der dritten Reihe Ihren Platz gefunden und sich darauf niedergelassen. Es bleibt Ihnen gerade noch Zeit, sich mit dem Schauplatz des Stückes vertraut zu machen: Ein hoher, ungemütlicher Saal, der sich von einer Tür im hinteren rechten Ecke des Bühnenraumes mit leicht gerundeten Wänden und nach vorn abfallendem Dielenboden zum Publikum hin wie ein gebogenes Füllhorn öffnet. Im Vordergrund ein Durcheinander von Stühlen und Tischen. Durch die verdreckten, mit Spinnweben verhangenen Scheiben der in die rechte Wand eingelassenen Fenster dringt trübes Tageslicht. An der Wand links ein halbes Dutzend Reh- und Hirschgeweihe sowie eine Anzahl kaum erkennbarer Bilder. Ein deprimierend häßlicher Ort.

Lautes Schweinegrunzen von rechts. Sekunden später erfahren Sie, daß wir uns im Tanzsaal eines armseligen Gasthauses befinden, in einem kleinen österreichischen Dorf, wo der Staatsschauspieler Bruscon mit seiner kleinen Wandertruppe – Ehefrau, Sohn und Tochter – eine Aufführung seiner “Menschheitskomödie” ‘Das Rad der Geschichte’ geben will.

Und dann erscheint, in Begleitung des Wirts, der große Mann höchstpersönlich: Bruscon alias Bates mit weitem, knöchellangen Trenchcoat, breitkrempigem Hut und Chiffon-Schal, beginnt zu reden, redet und redet und alle anderen lauschen seiner Suada, über zwei volle Stunden lang. Dabei wissen Sie schon nach den ersten Sätzen: Der Mann, der da mit verdrehten Augen und fahrigen Gesten seinen Text abschnurrt, langatmig, germanisch schwerfällig, furchtbar äußerlich, ohne jeden Witz und Humor, als interessiere auch ihn kein Wort von dem Geschwätz, das er in gleich bleibendem Tonfall, ungegliedert, ohne Crescendi oder Decrescendi, Pausen oder Zäsuren sinnlos und beliebig auf sie herniedergehen läßt, – Sie wissen, daß dieser Mann nicht nur fast nichts zu sagen hat, sondern es auch auf unbeschreiblich nichtssagende Weise sagt.

Sie glauben zu träumen. Der da agiert, ist kein beliebiger Schmierenkomödiant, sondern ein Schauspieler, der auf den besten Theaterbühnen des Landes und in vielen Filmen bewiesen hat, was er als Darsteller kann. Sie blicken sich um und sehen, daß einige Ihrer Nachbarn eingenickt sind. Aus Ihrer Enttäuschung und Frustration ist längst helle Wut geworden: über die Unverschämtheit der Theatermacher, die ihrem Publikum so etwas zumuten, und über das Publikum, das es sich ohne Murren zumuten läßt und nachher höflich applaudieren wird.

Und Sie wissen, daß dieser Albtraum nicht enden wird, wenn Sie das Theater verlassen, weil Sie darüber schreiben müssen und keine auch nur halbwegs plausible Erklärung dafür geben können, was dieser Aufführung zum Verhängnis wurde, warum in diesem Fall die elementarsten Regeln des Theaters mißachtet wurden. Denn auch zur Darstellung von Dilettantismus bedarf es der Kunstfertigkeit. Wer falsches Pathos und eitle Theaterallüren denunzieren will, braucht ein Gespür für echtes Pathos, von dem Alan Bates keine Spur zu haben scheint. Weil er die Rolle, die er darzustellen hätte, nicht ernst nimmt, spielt er nicht den Dilettanten, sondern wirkt in jedem Wort, jeder Geste selbst dilettantisch.

Und Sie sitzen da, fassungslos, und sollen sich einen Reim darauf machen. Ein schöner Beruf!

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