die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1991
Text # 352
Autor Jeremy Weller
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Bad
Ensemble/Spielort Glassmarket Project/Edinburgh Festival Fringe
Inszenierung/Regie Jeremy Weller
Uraufführung
Sendeinfo 1991.08.29/SWF Kultur aktuell/RIAS/DS Kultur/BR/SRG Basel (versch. Versionen)

“Die größte Einzelleistung des letztjährigen Edinburgh Festival war ‘Glad’, ein Stück, in dem die Obdachlosen der Stadt die Hauptrolle spielen“, schrieb die Zeitung ‘The Guardian’ vor einigen Wochen und nannte die Aufführung ein triumphales Ereignis. ‘Glad’ (auf deutsch: Froh) spielte in einem Edinburger Obdachlosenasyl (der Grassmarket Mission), handelte von Obdachlosen und wurde mit wirklichen Obdachlosen entwickelt, die darstellten, was sie selbst erlebt und erfahren hatten. Daß das unter der Leitung des Regisseurs Jeremy Weller entstandene Projekt unter diesen Umständen überhaupt gelang, war schon an sich ein kleines Wunder. Daß Weller die Truppe zusammenhalten und die Inszenierung auch anderswo zeigen konnte, zunächst in Glasgow und London, dann auch in Berlin, und man ihr ein Jahr nach der Uraufführung in Edinburg wieder begegnete, machte die Leistung nur umso erstaunlicher.

Inzwischen ist das Grassmarket-Projekt als Organisation, die mit gesellschaftlich benachteiligten Gruppen Aufführungen einer neuen Art von sogenanntem ‘realen Theater’ ermöglicht, als wohltätige Stiftung anerkannt worden und hat im Rahmenprogramm des diesjährigen Festivals seine zweite Inszenierung vorgestellt, ein Stück mit dem Titel ‘Bad’ (Schlecht) über jugendliche Strafgefangene, das wie sein Vorläufer mit den Betroffenen selbst erarbeitet wurde. In diesem Fall handelt es sich um ein gutes Dutzend junger Schotten, die zurzeit eine Gefängnisstrafe verbüßen oder früher im Gefängnis gewesen sind.

‘Bad’ beginnt mit einer Mordszene. Eine Frau wird erschlagen und ausgeraubt. Der Täter bekennt sich zu seiner Tat als “Krankheit in einer kranken Gesellschaft”. Erst durch den Applaus, der auf die Szene folgt, wird deutlich, daß es um einen simulierten Mord geht, um eine Szene aus Dostojewskis ‘Schuld und Sühne’ als Teil einer Übung in einer sogenannten Dramaklasse, die in einem Gefängnis für jugendliche Strafgefangene abgehalten wird.

Der Leiter der Gruppe versucht, den jungen Leuten auf spielerische Weise zu helfen, sich selbst kennen zu lernen, vor allem die eigenen, kaum kontrollierten aggressiven Impulse. Er versucht ihnen ein Bewußtsein zu vermitteln von ihrem destruktiven Verhalten, ein Selbstbewußtsein, das sie aus dem unheilvollen Kreislauf Vergehen-Bestrafung-Vergehen-Bestrafung herausführen könnte.

Die Gesellschaft hat sie als ‘schlecht’ befunden und dafür bestraft. Schon der Versuch, den Begriff ‘schlecht’ zu definieren (eine der Übungen, die ihnen abverlangt werden), gibt zu erkennen, daß die ihm zugeordnete Bestrafung von allen nur als Gewaltakt verstanden wird, der den Bestraften, selbst wenn sie ihn als logische Folge der eigenen Vergehen begreifen, keineswegs hilft, sich zu ‘bessern’, sondern viel eher das Gegenteil erreicht.

“Es ist ein gewalttätiges System“, sagt die Gefängnispsychologin in einem Gespräch mit dem Leiter der ‘Dramaklasse’, “ein System, das die Menschen gewalttätig macht. Bestrafung hat noch nie etwas Gutes bewirkt“. Beider Arbeit läuft darauf hinaus, den jungen Leuten klarzumachen, daß sie selbst die Initiative ergreifen, an das Gute in sich glauben müssen, an das ungeheure Potential der ungenutzten oder verschwendeten Energien; daß sie anfangen müssen, ihre Phantasie, ihre Intelligenz und ihre offensichtlichen Begabungen endlich produktiv zu gebrauchen.

Die Rolle des Gruppenleiters im Stück entspricht, wie es scheint, ziemlich genau der Rolle, die der Autor und Regisseur Jeremy Weller während der Arbeit an diesem Projekt spielen mußte. Einige der jungen Männer, die Weller zu bändigen hatte, wirken so beängstigend brutal, daß man ihnen nicht allein im Dunkeln begegnen möchte. Manche Szenen werden so dramatisch und realistisch ausgespielt, daß man die Vorgänge als echt bedrohlich empfindet. In zwei Situationen läßt der Autor die im Hintergrund Wache stehenden echten Gefängniswärter eingreifen, weil der Leiter der Gruppe bei seinen Versuchen der Simulation von Gewalttätigkeit selbst in Not gerät. Wie real die Gefahr ist, deutet Weller mit der Schlußszene des Stückes an, in welcher der Leiter des psychotherapeutischen Experiments von einem entlassenen Häftling, der wieder drogenabhängig geworden ist und ihn berauben will, erstochen wird.

Was das Stück aber ebenso deutlich heraus bringt – und das ist das eigentlich Entscheidende – ist: daß es selbst bei den am aggressivsten und bedrohlichsten erscheinenden jungen Kriminellen noch eine andere Seite gibt, die sich in den eigenen Gedichten und Liedern, die wir hören, ausdrückt, sich bei Besuchen von Familienangehörigen zeigt oder auch sonst in kleinen Gesten und Blicken verrät, die beweisen, daß die durch die Umstände verdorbenen, ungeliebten, fast immer schon als Kinder mißbrauchten Jugendlichen keineswegs unrettbar verloren sind; daß sie, wie jeder Mensch, Zuspruch, Anerkennung und etwas Liebe brauchen, die ihnen einfach noch nicht widerfahren sind.

Der 20-jährige Jimmy Watson erklärt in einer Art Epilog: “ Ich weiß, was ihr Zuschauer denkt. Daß wir nichts besseres verdient haben. Mein ganzes Leben war ich angekettet, für mich gab es nur Kinderheime, Erziehungsanstalten und Knast. Mir hat keiner je etwas beigebracht. Ich scheiße auf Moral und habe keine Angst vor Gesetzen. Gewissen – was ist das? Ich habe keins. Ich habe mir selbst beigebracht, mich zu hassen, den ganzen Dreck in mir. Ihr versteht es, mit Worten umzugehen, ich nur mit den Fäusten oder dem Messer. Es ist eine Krankheit, wie wir leben”.

Jimmy schreit seinen Zorn aus sich heraus: “ Warum hat uns keiner geholfen? Was ist verkehrt mit mir? Warum ist die Welt so – ihr dort, wir hier? Wir sollten zusammen sein! Was ihr hier gesehen habt, ist nicht nur Schauspielerei: Es ist Wirklichkeit! Das macht es so traurig, mich, das Stück – und euch“.

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