die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1983
Text # 185
Autor Howard Brenton
Theater
Titel The Genius
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Danny Boyle
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1983.09.14/SWF Kultur aktuell/RB/DLF/SR/SRG Basel 1983.09.15/WDR

“Wir sind die Kinder Galileis“, erklärt der amerikanische Nobelpreisträger Dr. Leo Lehrer in Howard Brentons neuem Stück ‘The Genius’ (Das Genie). Der junge Gelehrte hat als Mathematiker an der Universität von Massachusetts eine folgenreiche Entdeckung gemacht: daß die vier elementaren Kräfte der Natur – Schwerkraft, Elektrizität, starke Nuklearkraft und schwache Nuklearkraft – in Wahrheit ein und dieselbe sind. Die Gefährlichkeit dieser Entdeckung, für die der Pentagon bereits brennendes Interesse zeigt, da sie als Schlüssel zur Materie auch als Mittel der Auflösung von Materie dienen könnte, hat Lehrer veranlaßt, seine mathematischen Formeln zu vernichten und sich nach England abzusetzen, wo er im mathematischen Institut einer Universität unbehelligt der reinen Forschung nachgehen zu können hofft.

Der Zufall will ist, daß er dort Gilly Brown, einer jungen Studentin im ersten Semester, begegnet, die, wie sich herausstellt, ein mathematisches Wunderkind ist, wie sie höchstens einmal in hundert Jahren geboren werden. Die Achtzehnjährige malt Gleichungen in den Schnee, die zum selben Ergebnis führen: zur Entdeckung der Einheit der elementaren Kräfte der Natur. Lehrer ist entsetzt und versucht, dem Mädchen klarzumachen, daß es hier mit dem Feuer spielt, das die Welt vernichten könne. Sie beschließen, ihr gefährliches Wissen geheimzuhalten. Doch es ist Lehrer selbst, der dem auf sie ausgeübten Druck schließlich nachgibt und für den Judaslohn einer Professur ihr Geheimnis verrät.

Lehrers Verrat entspricht dem Galileis, den Brecht sagen läßt: “Ich überlieferte mein Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu mißbrauchen, ganz wie es ihren Zwecken diente. Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaftler nicht geduldet werden“.

Howard Brenton, der vor drei Jahren Brechts ‘Leben des Galilei’ für das Nationaltheater neu übersetzte, geht es hier um dieselbe Frage: Wie weit trägt der Naturwissenschaftler, der bahnbrechende Entdeckungen macht, für deren Folgen eine moralische Verantwortung? ‘Reine Forschung’ ist ein holder Traum, erklärt einer der akademischen Verwaltungsbeamten; Universitäten werden hierzulande von Regierungen finanziert, die neue Waffen entwickeln wollen, oder von Industrien, die bestimmte technische Neuerungen subventionieren. Die Mathematik ist zur “Mutter der Maschinen und Bomben“ geworden.

Es geht um die Frage, die Einstein beschäftigte, als er feststellte: hätte er geahnt, daß sein 1905 veröffentlichter Beitrag zur später so genannten Relativitätstheorie die Entwicklung der Atombombe bringen werde, hätte er die Mathematik aufgegeben und lieber Kuckucksuhren gebaut. Und Brenton treibt diese Frage bis zu dem Punkt, an welchem die Ahnung dämmert, daß die gesamte Atomforschung, alle Technologie bis zur Erfindung der Bombe ein Fluch der Menschheit sei, alle Suche nach dem Geheimnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, verhängnisvoll, bösartig wie ein Krebs, dessen Wachstum wir nicht mehr aufhalten können.

Das Stück ist geschrieben mit einem plakativen, expressionistisch anmutenden, von aggressiver Ungeduld geprägten Stil, der mit Überzeichnungen und Verkürzungen arbeitet. Die Vorgänge haben bei aller vorstellbaren Nähe zur Realität etwas Phantastisches; die Personen sind Repräsentanten eines je besonderen Typs, ihre Argumente kommen sentenzenhaft ausformuliert wie von der höheren Warte einer Instanz, die mehr weiß, als den Sprechenden zugänglich sein kann.

Brentons Methode ist die der Schocktherapie, die aufrütteln und beängstigen soll, bewußt machen, daß der Gleichmut, mit dem wir uns tagtäglich sagen lassen, daß die Menschheit dabei ist, sich selbst zu vernichten, der Progreß der Krankheit zum Tode sich kaum mehr aufhalten lasse, – daß solcher Gleichmut, mit dem wir die tödliche Nachricht ad acta legen, als beträfe sie uns nicht, uns zu Mittätern werden läßt.

‘The Genius’ ist ein Stück mit vielen Ungereimtheiten und unaufgelösten Widersprüchen; ein Stück, das Fragen stellt, auf die es keine Antworten weiß; ein Stück, das es dem Publikum schwer macht, gerade wenn es, wie in der Uraufführung des Royal Court Theatre unter der Regie von Danny Boyle, theatralisch so wirkungsvoll in Szene gesetzt wird. Es ist ein Stück, das Angst artikuliert und uns wie der Schrei des Schreckens, den Gilly Brown ausstößt, wenn sie begreift, daß es mit der Reinheit der Forschung ein für allemal vorbei ist, unvergeßlich durchdringend in den Ohren gellt – Schrei der Kassandra, die den nahen Untergang sieht.

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