die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1997
Text # 288
Theater
Ensemble/Spielort Globe Theatre/London
Sendeinfo 1997.06.12/DLR/SWF Kultur aktuell/WDR/ Nachdruck: Darmstädter Echo

In London feiert man die Eröffnung des neuen Globe-Theaters. Der legendäre, nach oben offene Rundbau aus Holz und Mörtel, 1599 am Südufer der Themse errichtet, 1613 abgebrannt, 1614 wiederaufgebaut und dreißig Jahre später von den lustfeindlichen Puritanern unter Oliver Cromwell wieder abgerissen – Shakespeares berühmtes ‘O von Holz’ mit der breiten, halb überdachten, weit in den Zuschauerraum hineinragenden Bühne, auf der die großen Dramen ‘Hamlet’, ‘Othello’, ‘King Lear’ und ‘Macbeth’ zum ersten Mal vorgestellt wurden – ein Gebäude, über dessen architektonische Eigenarten und darstellungstechnische Möglichkeiten mehr geschrieben wurde, als über jedes andere Theater der Welt – Shakespeares ‘Globe’ ist wieder auferstanden. Ein historisches Ereignis, das befeiert zu werden verdient.

Mit dem neuen Gebäude ist London um eine Touristenattraktion reicher geworden. Man rechnet damit, daß in den nächsten Jahren Hundertausende das ungewöhnliche Bauwerk bestaunen werden, für das allein sich schon die Reise nach London lohnt.

Von dem Original, dem historischen Globe Theatre aus elisabethanischer Zeit, das nicht weit entfernt von der Stelle stand, an der nun das neue Haus errichtet wurde, werden sie nichts mehr sehen. Die Fundamente des alten ‘Globe’, die man vor einigen Jahren durch Zufall entdeckte, wurden auf Beschluß der konservativen Regierung im Einvernehmen mit den städtischen Behörden trotz heftiger Proteste unter einem modernen Wohnblock, den man für wichtiger hielt als die Möglichkeit, Genaueres über die Bauweise der zerstörten elisabethnischen Theater zu erfahren, wahrscheinlich für immer begraben. Die Zeitung ‘The Guardian’ nannte es einen “Akt der Barbarei”.

‘Shakespeares Globe’ ist also nicht wirklich Shakespeares ‘Globe’ und steht, wie gesagt, nicht einmal an derselben Stelle. Aber das neue Gebäude kommt in seinen Ausmaßen, seinen architektonischen und bühnentechnischen Eigenheiten dem Original so nahe, wie wir nach den Erkenntnissen der Wissenschaft uns vorstellen können und soweit es die heutigen baupolizeilichen Vorschriften erlauben.

Man hat versucht, sich an die aus dem frühen 17. Jahrhundert überlieferten Regeln der sogenannten “geheiligten Geometrie” der Renaissance zu halten und möglichst nur Materialien zu benutzen, die damals Verwendung fanden: nagellos gefugte Balken, für die überdachten Teile Riedgras aus Norfolk, ein Mörtelgemisch aus Sand, Derbyshire-Kalk und Ziegenhaar sowie Balustraden in der Form, wie man sie bei der Entdeckung der Reste des 1587 erbauten (jetzt ebenfalls unter Beton begrabenen) Rose Theatre fand.

Im Unterschied zur Bauweise der Shakespearezeit ruht das neue Gebäude auf einem Betonfundament, kann mit anderthalbtausend Zuschauern nur gut halb so viel Publikum fassen, hat doppelt so viele Notausgänge und für alle mit Ried gedeckten Teile des Hauses eine moderne Sprinkleranlage.

Die Rekonstruktion des historischen Globe-Theaters ist dem amerikanischen Schauspieler Sam Wanamaker zu verdanken, der 1949 erstmals nach London kam, nach den Relikten des berühmten Bauwerks suchte und, da er nichts fand, einen Traum zu träumen begann, an dessen Verwirklichung er bis zu seinem Tod im Dezember 1993 mit allen verfügbaren Kräften arbeitete. Die Realisierung des Globe-Projekts wurde sein Lebenswerk. Sam Wanamaker hat sich damit einen Ehrenplatz in der Theatergeschichte verdient und sich selbst das schönste Denkmal gesetzt.

Die Faszination des Gebäudes, das in Gegenwart der britischen Königin gerade feierlich eröffnet wurde, ist kaum zu beschreiben, und man kann nur jedermann raten, eine Gelegenheit zu suchen, nach London zu kommen, um selbst zu erleben, was es mit diesem architektonischen Wunderwerk auf sich hat. Neben der Tatsache, daß das neue ‘Globe’ uns zum ersten Mal statt theoretischer Vorstellung wahrhaftig ein Gefühl davon vermittelt, wie den Zuschauern zumute gewesen sein mag, die zu Lebzeiten Shakespeares ‘Hamlet’ oder ‘Othello’ sahen, liegt die eigentliche Bedeutung des Theaters aber woanders. Das neue ‘Globe’ gibt uns die Möglichkeit, die Dramen des größten Theaterdichters unter Bedingungen, für die sie geschrieben wurden, ganz neu kennenzulernen und dabei vor allem zu entdecken – und auf der Bühne zu erproben – was man als in den Text selbst eingelassene indirekte Regieanweisungen des Autors verstehen kann. Das neue ‘Globe’ könnte zu einem einzigartigen Labor der praktischen Erforschung der Werke werden.

Dazu aber bedarf es großer Künstlerpersönlichkeiten vom Format Peter Halls oder Peter Brooks und eines Schauspielensembles, das so differenziert zu arbeiten versteht, wie das bei den besten Shakespeare-Inszenierungen Brooks oder Halls zu sehen war. Das junge Ensemble des neuen ‘Globe’ unter der Leitung des Schauspielers Mark Rylance scheint dafür nicht geeignet zu sein. Denn was sich den zur Eröffnung gebotenen Kostproben aus den ersten Inszenierungen, dem Prolog und vierten Akt aus ‘Heinrich V’ und dem fünften Akt aus dem ‘Wintermärchen’, entnehmen läßt, deutet darauf hin, daß das neue Ensemble, dessen grobschlächtige Spielweise an Aufführungen eines drittklassigen Provinztheaters erinnert, dieser Aufgabe nicht gewachsen ist.

Was das neue ‘Globe’ im Augenblick zu bieten hat, ist nicht mehr als eine Touristenattraktion, um die man die Londoner beneiden kann, weil sie die Kassen zum klingeln bringt. Was sich dagegen künstlerisch machen ließe, bleibt zunächst im Bereich der Kategorie Möglichkeit.

Nach Oben