die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 336
Kulturpolitik
Titel Zabalaza Festival
Ensemble/Spielort Institute of Contemporary Arts (ICA)/London
Sendeinfo 1990.07.16/SWF Kultur aktuell/DLF/RIAS/RB/WDR Krit. Tagebuch, SRG Basel 1990.08.09/Darmstädter Echo

Über neunzig südafrikanische Künstler – Schriftsteller, Dichter, Musiker, Sänger, Tänzer, Maler, Fotografen, Theaterleute und Filmemacher – sind für zwei Wochen nach London gekommen, um sich mit Landsleuten, die im Exil leben, Künstlern aus anderen afrikanischen Ländern und britischen Kollegen zu treffen, eine Art Bestandsaufnahme zu versuchen und sich über Ansätze einer Kulturpolitik in einem zukünftigen demokratischen Südafrika zu verständigen.

Neben den unter dem Namen ‘Zabalaza Festival’ laufenden öffentlichen Veranstaltungen – Theater- und Filmvorstellungen, Konzerte, Ausstellungen und Podiumsgespräche – lag der eigentliche Schwerpunkt des Programms bei den nicht-öffentlichen Workshops, den Seminaren und Übungen, die den südafrikanischen Teilnehmern Gelegenheit geben sollten, Erfahrungen auszutauschen, voneinander zu lernen, ihre Arbeit zu koordinieren und zu erörtern, ob und in welchem Sinne kulturelle Erscheinungen Ausdruck der realen politischen Verhältnisse sind beziehungsweise umgekehrt auf sie einwirken, sie also ihrerseits beeinflussen können.

In den Podiumsgesprächen war immer wieder die Rede davon, daß man seit den sechziger, vor allem den frühen siebziger Jahren bei allen kulturellen Aktivitäten der schwarzen oder gemischtrassigen Südafrikaner eine immer deutlicher werdende Politisierung habe feststellen können, eine Präokkupation mit politischen Themen, die man davor nicht gekannt habe. Offensichtlich gebe es Zeiten, “wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist”, wo jeder Gedanke unausweichlich geprägt sei von den Spuren erfahrenen Leids, des Zorns gegen Unrecht, der Sehnsucht nach Freiheit. In solchem politischen Klima seien die Künste, seien Dichtung, Literatur, Theater und Film nicht nur Medien der Unterhaltung, sondern auch Werkzeug der politischen Aufklärung und Veränderung.

Man müsse dafür sorgen, daß der vom Ausland über Südafrika verhängte kulturelle Boykott unbedingt fortgesetzt werde, bis das Land befreit und das Apartheid-Regime endgültig beseitigt sei. Denn bisher habe sich an den Lebensbedingungen der südafrikanischen Schwarzen trotz allen Geredes über Reformen fast nichts geändert. Dagegen müsse man sich bemühen, die Ghettoisierung der südafrikanischen Kultur und ihre Zersplitterung zu überwinden.

Die Schwarzen Südafrikas haben begonnen, den Reichtum der eigenen überfremdeten, marginalisierten, unterdrückten Kultur wiederzuentdecken und jahrhundertealte Traditionen, Sitten und Gebräuche wiederzubeleben. Sie haben begonnen, die alten Mythen und Legenden, Märchen und Lieder zu sammeln und aufzuzeichnen. Sie haben erkannt, daß es viele Formen der mündlichen Überlieferung, der erzählenden Dichtung gibt, aber so gut wie keine Literatur, keine Tradition des geschriebenen Wortes. An den Texten, Gedichten, politischen Liedern, Theaterstücken, die im Laufe der letzten Jahre entstanden, erkennt man das Bemühen, die große orale Tradition gleichsam zu literarisieren, sie in literarischen Formen aufzubewahren und fortzuführen.

Man ist sich bewußt geworden, daß der Einfluß der Europäer, die nicht nur das Land, sondern auch die Kultur der Eingeborenen eroberten, die alten afrikanischen Sprachen, soweit sie erhalten geblieben sind, entscheidend verändert haben; daß sich neben Englisch und Afrikaans, den Sprachen der Weißen und den Sprachen der Eingeborenen, auch eine neue Mischsprache entwickelt hat, die zu einer Art lingua franca Südafrikas werden könnte. Und man ist bereit, Sprache als etwas lebendiges zu verstehen, das sich verändert, so daß der Versuch, die verschiedenen Sprachen reinzuhalten und gegeneinander abzusichern, zum Scheitern verurteilt wäre.

Einer der schwarzen Journalisten meinte, es komme nun darauf an, aus der ‘Phase der Konfrontation’ überzuleiten zur ‘Phase der Transformation und Rekonstruktion’. Demokratie könne nicht von heute auf morgen anbefohlen werden, sie sei eine Aufgabe, an der man auch nach der Befreiung werde weiterarbeiten müssen.

Ich hatte den Eindruck, alle Beteiligten sind sich darüber klar, daß ein ungeheurer Berg von Aufgaben vor ihnen liegt, die sie bewältigen müssen, wenn sie den mit beispielloser Geduld und so viel Mut, Glaube und Hoffnung geträumten Traum von Freiheit und wahrer Demokratie Wirklichkeit werden lassen wollen.

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