die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 269
Autor Claire Luckham (nach William Shakespeare)
Theater
Titel The Roaring Girl’s Hamlet
Ensemble/Spielort The Sphinx/Warehouse Theatre/London
Inszenierung/Regie Sue Parrish
Uraufführung
Sendeinfo 1992.02.07/WDR/BR/RIAS/DS Kultur/SRG Basel 1992.02.10/SWF Kultur aktuell/Nachdruck: Darmstädter Echo

Ein geflügeltes Wort, das aus dem Lateinischen kommt, besagt: Bücher haben ihre Schicksale. Man möchte hinzufügen: So auch die Werke der Weltliteratur. “Man hat ‘Hamlet’ im Frack und im Zirkustrikot, in mittelalterlicher Rüstung und im Renaissancekostüm gespielt. Um das Kostüm aber geht es nicht“, schreibt der polnische Theatermann Jan Kott. “Wichtig ist nur, daß man durch den Shakespearschen Text hindurch zu den Erfahrungen unserer Zeit findet”.

Das im Jahre 1602 uraufgeführte Stück, Shakespeares längstes, auch vielleicht größtes Drama, hat zahllose Interpretationen herausgefordert. Nicht nur fast alle namhaften Schauspieler, auch einige Schauspielerinnen mit Rang und Namen, wie Sarah Bernhardt, haben sich an der Titelrolle des ‘Hamlet’ versucht. Die Anfang der Siebzigerjahre, zur Hochzeit der internationalen Frauenbefreiungsbewegung ‘Women’s Lib’ gegründete Frauentheatergruppe The Sphinx geht jetzt noch einen Schritt weiter und stellt das Stück, drastisch auf halbe Länge gekürzt, in einer Fassung vor, bei der acht Schauspielerinnen sämtliche Rollen der personenreichen Tragödie übernehmen.

Nach dem Motto: Wenn zu Shakespeares Zeiten alle Frauenrollen von jungen Männern gespielt werden mußten – warum sollen dann nicht auch einmal Frauen eines der größten klassischen Dramen ohne Männer auf die Bühne bringen?, haben die Damen sich über ‘Hamlet’ hergemacht. “Frauen geben dem dänischen Prinzen eine neue Stimme“, hieß es in der Vorankündigung einer Londoner Zeitung, die uns versprach, das Stück werde in neuem Licht erscheinen. Shakespeares Tragödie ‘Hamlet’, gesehen aus der Perspektive der Frau – das klang durchaus wie eine interessante neue Variante.

Die Autorin Claire Luckham hatte den Einfall, die historische Gestalt einer gewissen Moll Cutpurse, die zu Lebzeiten Shakespeares, meistens als Mann verkleidet, sich in Londoner Kneipen herumtrieb und durch Taschendiebstähle und andere Gaunereien damals berühmt-berüchtigt war, wiederauferstehen zu lassen. Shakespeares Kollegen, die Dramatiker Middleton und Dekker, hatten jene Moll Cutpurse zur Hauptfigur eines Stückes gemacht, das 1610 unter dem Titel ‘The Roaring Girle’ (Das tolle Mädchen) in London herauskam. Moll wurde darin zu einer weiblichen Robin-Hood-Gestalt verklärt.

Claire Luckham läßt Moll Cutpurse eine neue Gaunerei begehen, die in doppeltem Sinne illegale Piratenaufführung des Erfolgsstückes ‘Hamlet’, gespielt von einer Gruppe von Frauen. In einem Prolog stellt Moll ihre Truppe vor und beschreibt sich selbst als Frau, die sich bekanntermaßen auf den eigenen Geist und Witz verlasse und keine Neigung verspüre, sich unters Joch der Ehe zu beugen, wo die Frau “für kleines Vergnügen” lebenslänglich dem Mann zu dienen gezwungen sei.

Nun aber sei ihr doch etwas bange, nicht nur vor der Gefahr, von der Polizei entdeckt zu werden, sondern auch vor dem naheliegenden Vorurteil, daß hier Frauen versuchen würden, Männer bloß nachzuäffen, wenn sie ohne deren Hilfe “dieses heiß geliebte, geheiligte Stück, das die Männer in ihren Herzen vor den Frauen verschließen”, auf die Bühne zu bringen wagen. “Meßt uns nicht an den Hamlets, die ihr davor gesehen habt!”, ruft sie dem Publikum zu.

Sue Parrish, die Leiterin der Frauentheatertruppe, die uns die entmannte Shakespearetragödie im Südlondoner Warehouse Theatre vorstellt, geht davon aus, daß Shakespeare keine anständigen Frauenrollen schreiben konnte, doch seinen Männerrollen “viele weibliche Qualitäten” zukommen ließ. Dadurch kämen die männlichen Darsteller in den vollen Genuß komplexer Rollen, in denen sie auch die eigenen femininen Charakterzüge erkunden könnten. Solche Erfahrungen zu machen, bleibe den Darstellerinnen seiner Frauenrollen normalerweise vorenthalten. Dies allein rechtfertige schon den Versuch. Im übrigen hoffe die Truppe, daß ihre Arbeit nicht als ein feministischer Spleen abgetan, sondern vor allem künstlerisch ernst genommen werde.

Oh, hätte sie dies doch nicht gesagt! Man hätte den Damen die Schmach ersparen können, die ihnen antun muß, wer ihrem Wunsch, nach rein künstlerischen Kriterien bewertet zu werden, entspricht.

Wer keinen Darsteller hat, der einer so gewaltigen Rolle wie der des Hamlet gewachsen ist; wer als Regisseur selbst mit einem solchen Aufgebot gebündelter Weiblichkeit, auch in den Männerrollen in Frauenkleidern und mit aufgestecktem langen Haar, dem Publikum keinerlei neue Einsichten über das Stück und das Verhältnis seiner männlichen und weiblichen Charaktere zueinander vermitteln kann, der sollte sich nicht an einem solchen Werk vergreifen.

Die Frage, ob Frauen auch Männerrollen spielen können oder nicht, hat damit, wie ich meine, gar nichts zu tun. Ich wüßte mindestens eine Frau zu nennen, die man sich trotz, wegen oder ungeachtet ihrer erotischen Ausstrahlung auch jederzeit als Hamlet vorstellen könnte, die englische Schauspielerin Tilda Swinton, die durch ihr künstlerisches Format, ihre Persönlichkeit und dank ihrer enormen Begabung auch in sogenannten Hosenrollen jedem ihrer großen männlichen Kollegen ebenbürtig wäre.

So absurd wie die Behauptung, daß kein Mann die Rolle der Frau und das, was ihr in der von Männern beherrschten Gesellschaft angetan wird, verstehen könne, so daß man ihm raten müsse, in dem noch lange nicht ausgekämpften Kampf der Frauen um Gleichberechtigung sich jeglichen Urteils und selbst solidarischer Gesten zu enthalten, so irrig erscheint mir die von Sue Parrish vertretene Ansicht, eine Frau sei in der Lage, “eine emotionale Intensität” zu mobilisieren, die kein Mann übertreffen könne. – Kommt doch wohl auf den Mann, auf die Frau an.

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