‘Class Enemy’ (Klassenfeind) von Nigel Williams, uraufgeführt im Theatre Upstairs des Royal Court Theatre, ist eine echte Entdeckung, die Entdeckung eines gestern noch unbekannten dreißigjährigen Autors und die Entdeckung eines Bühnenstückes, das zum Besten gehört, was das britische Theater heute zu bieten hat (und das ist wahrlich nicht wenig).
Das Stück spielt in einem Klassenzimmer einer Südlondoner Gesamtschule. Eine Gruppe von Fünfzehnjährigen wartet auf einen Lehrer, der bis zum Ende, dem Ende des Schultages, nicht erscheinen wird. Eine Bande von verwahrlosten, brutalisierten Halbstarken, die nach Führung, Anleitung, Wissen lechzen, einem Wissen, das sie befreit, nicht bevormundet und unterdrückt. Sie hassen die Lehrer, Polizisten, Richter, Sozialhelfer, die ganze autoritäre Welt der Erwachsenen, und sie hassen sich selbst, die Produkte einer Gesellschaft, die mit ihnen, den Kindern der Großstadtslums, nichts anzufangen weiß, die nicht versteht, daß ihre zerstörerische Wut, ihre Gewalttätigkeit Resultat und Ausdruck schierer Verzweiflung ist.
Ihre Sprache ist der schwere, oft kaum verständliche, von Kraftausdrücken und Flüchen durchsetzte Gossenjargon des Südlondoner Proletariats. Ihre Aggressivität wirkt unmittelbar bedrohlich, weil sie glaubhaft ist und plausibel erscheint. Die Jungen ahnen, was sie zum Abschaum der Welt gemacht hat, sie wissen, was ihnen mangelt. Und wenn das Stück überhaupt eine Schwäche hat, dann höchstens die, daß es den Fünfzehnjährigen ein Maß an Bewußtheit zuschreibt, das ihre geistigen Verhältnisse, den Grad ihrer Reife vielleicht übersteigt.
Während sie über Stunden sich selbst überlassen sind, kommen sie auf den Gedanken, daß jeder von ihnen für eine Weile die Rolle des Lehrers übernehmen und dabei etwas von dem vermitteln sollte, was er zu kennen glaubt. Der erste versucht sich mit einer Parodie auf Sexualerziehung, der zweite spricht von der Pflege einer Geranienpflanze, der dritte macht sich zum Sprachrohr der neofaschistischen Nationalen Front und predigt blindwütigen Rassenhaß, der vierte, ein Schwarzer, berichtet über die Folgen seiner Entdeckung des Wortes ‘Nigger’, der fünfte erklärt, wie man mit etwas Butter, Brot, Zucker, Rosinen und Milch ein schmackhaftes Mahl bereiten kann, wenn Fleischgerichte unerschwinglich sind.
Zwischen dem Anführer des desperaten Haufens und dem Jungen, der für seine Eltern den Haushalt führen muß, kommt es am Ende zu einem blutigen Kampf, wobei es um die Frage geht, ob das abscheuliche, ungerechte, grausame Leben, das sie kennen, noch irgend lebenswert sei.
Der junge Lehrer, der zweimal kurz das Klassenzimmer betritt, das sich im Verlauf des Stückes mehr und mehr zu einem Schlachtfeld verwandelt, gibt ihnen zu verstehen, daß sie keinen Unterricht mehr zu erwarten haben, daß sich keiner der Lehrer mehr in ihre Klasse getraut. Man habe sie aufgegeben, abgeschrieben. “Haut ab, verschwindet, was wollt ihr noch hier? Ihr kennt nur Zerstörung“.
Nigel Williams macht die Angst und Verzweiflung der Jungen, die nach Unterricht und befreiendem Wissen hungern, auf eindrucksvollste Weise verständlich. Sein Stück ist weniger ein Beitrag zur Auseinandersetzung um das auch in England noch immer heiß umstrittene Thema der Gesamtschulerziehung, als ein soziales Dokument über die Not junger Menschen in den Armenvierteln der Weltstadt London, über einige der Ursachen für jugendliche Zerstörungswut und Kriminalität sowie über die sinnlose Verschwendung menschlichen Potentials.
Unter Bill Alexanders Regie sorgen die jugendlichen Darsteller für einen der stärksten, überzeugendsten Theaterabende.