die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 201
Autor Anton Tschechow/Michael Frayn
Theater
Titel Wild Honey (Platonow)
Ensemble/Spielort Lyttelton Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Christopher Morahan/Bb. John Gunter
Hauptdarsteller Ian McKellen/Charlotte Cornwell
Uraufführung
Sendeinfo 1984.07.20/SWF Kultur aktuell/ORF Wien 1984.07.24/RB 1984.07.26/SFB?Nachdruck: Darmstädter Echo

Unter dem Titel ‘Wild Honey’ (Wilder Honig) stellt das Nationaltheater die Neufassung eines Stückes von Anton Tschechow vor, das sechzehn Jahre nach seinem Tod in dem Safe einer Moskauer Bank gefunden wurde, lange für unaufführbar galt, 1954 in Stockholm unter dem Titel ‘Armer Don Juan’ erstmals gespielt und seither meistens unter dem Namen seines männlichen Protagonisten Platonow gezeigt wird, ein Frühwerk des Autors, das er vermutlich mit 21 Jahren als Medizinstudent in Moskau schrieb und es nach Aussagen seines Bruders Mikhail vernichtet haben sollte.

Der 1920 entdeckte, handgeschriebene und mit zahllosen Korrekturen versehene Text, bei dem das Titelblatt mit dem Namen des Werkes fehlte, ist mehr ein dramatischer Entwurf als ein fertiges Bühnenstück und bedarf daher der Bearbeitung; ein schwieriges Unterfangen, wie Michael Frayn, der sich der Aufgabe unterzog, versichert. Der Texte sei viel zu lang, enthalte zu viele Personen und zu viel Handlung. Der Autor versuche zu vieles auf einmal: “Das Stück will gleichzeitig sexuelle Komödie, moralisches Traktat, Melodrama, historisches Schauspiel und Tragödie sein”.

Frayn behandelte den Text, als wäre es der Entwurf zu einem seiner eigenen Stücke, kürzte, änderte den chronologischen Verlauf, stellte Szenen und Dialoge um, ergänzte Zeilen, strich Nebenhandlungen und Personen und erfand neue Rollen. Die melodramatischen Elemente werden zurückgedrängt zugunsten einer Entwicklung, die vom leichten Lustspielton zu Beginn des Stückes zur Farce und schließlich zur Tragikomödie der Schlußszenen führen sollte. Trotz dieser Eingriffe sei das Stück in allen wesentlichen Zügen von Tschechow, die Stärken des Textes ausschließlich sein Verdienst, nicht das seines Übersetzers, der sich die Freiheit genommen habe zu redigieren, wo dies nötig erschien, erklärt Frayn bescheiden.

‘Wild Honey’ beginnt in der Tat in typischer Tschechow-Manier: auf der riesigen Veranda eines von Birken und hohen Riedgräsern umgebenen vornehmen Landhauses, das der jungen Generalswitwe Anna Petrowna und ihrem Stiefsohn Sergej gehört, der gerade geheiratet hat. Man hat Nachbarn und Freunde zu einem sommerlichen Familienfest geladen. Unter den Gästen finden wir den pensionierten Artillerieoffizier Trilitzki, seinen Sohn, den Landarzt, und seinen Schwiegersohn, den Lehrer Platonow; Porfiri, einen alten Verehrer Anna Petrownas, und Gerasin, einen neureichen Geschäftsmann; die Chemiestudentin Marya und – ungebeten – den Banditen und Pferdedieb Osip.

Man feiert den Einzug der neuen Schwiegertochter Sofya, die, wie sich herausstellt, eine ehemalige Geliebte des Dorfschullehrers Platonow ist. Ihre verletzend direkte Frage “Warum hast du nicht mehr aus deiner Begabung gemacht?“ läßt den zwanghaften Don Juan, der allen anderen die moralischen Leviten liest, doch sich an die eigenen Grundsätze nicht hält, das Maß der Selbsttäuschung erkennen. Zugleich erwacht in ihm die alte Liebe zu Sofya, wodurch er bewirkt, daß er nunmehr von vier Frauen umschwärmt wird, die ihm nachstellen und deren Zuneigung er sich nicht entziehen kann, bis aus dem geistreich souveränen Salonlöwen des ersten Bildes ein von Neurosen geschütteltes armseliges Menschenbündel geworden ist, das sich am Ende vor den fahrenden Zug stürzt, um dem erotischen Chaos, das er entfesselt hat, zu entfliehen.

Frayns Neufassung des Stückes macht deutlich, daß darin viele der uns aus späteren Tschechow-Dramen bekannten Motive enthalten sind, wie auch die charakteristische Ambivalenz zwischen Komik und Tragik. Der Held der Komödie trägt gegen Ende immer mehr tragische Züge, wennzwar Michael Frayn dafür gesorgt hat, daß sich die possenhaften Elemente in den Vordergrund drängen. Was sich anfangs wie reinster Tschechow ausnahm, wirkt in den überturbulenten Schlußszenen, wenn die Pointen so schnell aufeinander folgen, daß das Publikum sich vor hysterischem Gelächter nicht mehr zu halten weiß, wie eine waschechte Farce von Michael Frayn.

Die Inszenierung von Christopher Morahan mit dem an Steins ‘Sommergäste’ erinnernden Bühnenbild von John Gunter ist an theatralischer Wirksamkeit kaum zu überbieten. Der Regisseur läßt seinen Darstellern die Zügel schießen und gegen Ende fast ohne Rücksicht auf dramatische Glaubhaftigkeit auf Gelächter spielen; was freilich auf virtuose Weise geschieht.

Ian McKellen liefert die eindrucksvolle Charakterstudie eines Mannes, der sich zwischen vier liebenden Frauen gefangen sieht. “Eine wundervolle Leistung“, schrieb der Kritiker des Londoner ‘Guardian’ begeistert, “die die Neurose komisch erscheinen läßt”. Neben Ian McKellen verdiente sich Charlotte Cornwell in der Rolle der Anna Petrowna ein Sonderlob. “Sie ist der wahrhaft freie Geist des Stückes“, schrieb die ‘Financial Times’. Charlotte Cornwell spielt die Rolle einer sehr attraktiven, vitalen Frau, die sich nicht nur körperlich zu Platonow hingezogen fühlt, sondern auch tiefe, herzliche Freundschaft für ihn empfindet. “Eine starke emanzipierte Frau, die mit ihrem Leben nichts anzufangen weiß und doch ihre Sache mit einer Kraft und Unabhängigkeit betreibt, die ebenso frei ist von theatralischer Stereotypisierung wie Platonow selbst”, hieß es in der ‘Times’. “Das ‘Stück ohne Titel’ fasziniert nicht nur als Vorschau auf das, was später aus Tschechow wurde, sondern weil es uns ahnen läßt, was aus ihm hätte werden können: ein Meister der Farce”.

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