die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 353
Autor Carl Sternheim/C.P. Taylor/Harley Granville-Barker/Nona Ciobanu
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Schippel/The Voysey Heritage/Eternal Youth and Life without Death
Ensemble/Spielort Greenwich Theatre London/Academy for Theatre and Film Bukarest/ Edinburgh Festival 1992
Inszenierung/Regie William Gaskill/Nona Ciobanu
Sendeinfo 1992.08.22/DS Kultur 1992.08.24/SWF Kultur aktuell/WDR/RIAS/BR (versch. Versionen)

Das 46. Edinburgh International Festival – nach dem ‘Guinness Buch der Rekorde’ “das größte Festival der Künste in der Welt“ – wurde mit einer konzertanten Aufführung der Schönberg-Oper ‘Moses und Aaron’ feierlich eröffnet. Es war der Auftakt einer neuen Ära. Denn mit Brian McMaster als neuem Festivaldirektor, dem ehemaligen Intendanten der Waliser Nationaloper, der unter anderem durch die mehrmalige Verpflichtung von Peter Stein als Gastregisseur von sich reden machte, wird es vermutlich entscheidende Veränderungen geben.

Das diesjährige Programm erscheint wesentlich klarer strukturiert und konzentriert sich auf vier große Themenkomplexe. Nicht weniger als 32 Konzerte sind Werken von Tschaikowski gewidmet. Ein zweiter Schwerpunkt liegt bei den Konzerten mit alter schottischer Musik. Bei den schauspieltheatralischen Veranstaltungen hat sich der Akzent von den zahlreichen Gastspielen ausländischer Bühnen auf zwei große Retrospektiven verlagert, die Gelegenheit geben, die Bedeutung von zwei britischen Dramatikern, deren Stücke heute nur noch selten gespielt werden, neu zu überprüfen.

“Andere europäische Festivals präsentieren mit Stolz ihre eigenen Produkte“, hieß es kürzlich in einem Artikel der Londoner ‘Sunday Times’. “Salzburg bringt Mozart, Stratford hat Shakespeare, Verona Verdi und so weiter ... Nur Edinburg war bislang die große Ausnahme”. Nach fünfundvierzig Jahren habe sich die Festivaldirektion in Edinburg endlich entschlossen, mehr von dem zu zeigen, was das eigene Land künstlerisch zu bieten hat.

Der vor elf Jahren verstorbene C.P. Taylor ist einer der beiden britischen Autoren, von denen in diesem Jahr je sieben Stücke vorgestellt und in Symposien, Seminaren und Podiumsgesprächen kritisch gewürdigt werden. Mit über siebzig Bühnenwerken gilt Taylor als der produktivste Dramatiker Schottlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Der andere, Harley Granville-Barker, einer der einflußreichsten Theaterleute in Großbritannien vor und nach dem Ersten Weltkrieg, gilt zugleich als “der am meisten verkannte englische Bühnendichter dieses Jahrhunderts”.

Für den 1929 in Glasgow geborenen C.P. Taylor ergab sich am Ende der ersten Festivalwoche eine eher negative Bilanz. Von den drei Stücken, die ich sah, verdiente nur eines, wieder aufgeführt zu werden, und auch hier ging der Erfolg nur zum Teil auf das Konto des schottischen Autors. Denn sein ‘Schippel’ ist die Bearbeitung von Carl Sternheims satirischer Komödie ‘Bürger Schippel’, die Taylor sprachlich von expressionistischen Schnörkeln befreit und mit gesanglichen Einlagen angereichert hat. Daß die erfolgreiche Inszenierung des Londoner Greenwich Theatre auch in Edinburg so gut ankam, lag neben der vorzüglichen Besetzung der männlichen Hauptrollen vor allem an den mit herrlich ironisierter germanischer Inbrunst gesungenen Liedern von Mendelssohn, Schubert und Wagner.

‘The Voysey Inheritance’ (Die Erbschaft) ist das bekannteste Werk von Harley Granville-Barker. William Gaskills Neuinszenierung bestätigt seinen Rang als “eines der großen englischen Dramen des 20. Jahrhunderts”. Daß das 1905 uraufgeführte Stück durch den Skandal um den britischen Medienmogul Robert Maxwell, nach dessen Tod unter dubiosen Umständen sich herausstellte, daß er hunderte von Millionen Pfund aus der Pensionskasse seiner Angestellten entwendet hatte, plötzlich auch ganz aktuell werden würde, war freilich nicht vorauszusehen.

‘The Voysey Inheritance’ ist die Geschichte von einem jungen Rechtsanwalt, der entdeckt, daß das gesamte Vermögen der Familie durch illegale Machenschaften seines Vaters, dem Seniorchef einer angesehenen Anwaltspraxis, ergaunert wurde, und der sich gezwungen sieht, nach dem Tod des Alten die illegalen Geschäften vorläufig weiterzuführen, um das Geld, das den Klienten der Firma geraubt wurde, wieder zurückzugewinnen. Das dramaturgisch perfekt gebaute Stücke enthält glänzende Dialoge und ein Dutzend großartiger Rollen, jede einzelne eine fein differenzierte Charakterstudie. Gaskills intelligente und behutsame Inszenierung geriet zum Besten, was das offizielle Programm in der ersten Festivalwoche zu bieten hatte.

Das große Rahmenprogramm des Edinburgh Festival Fringe ist mit fünfhundertvierzig Truppen aus allen Erdteilen und fast elftausend Veranstaltungen (darunter zweihundertfünfzig Uraufführungen) in diesem Jahr größer als je zuvor. Stets gilt es, in dieser unübersehbaren Fülle künstlerisch größtenteils bedeutungsloser Vorstellungen die Aufführungen zu entdecken, die an Originalität und Imagination oder durch Virtuosität der Darstellung alles andere in den Schatten stellen und darum in Erinnerung bleiben.

Sechs siebzehn- bis achtzehnjährige rumänische Schauspielschüler der Akademie für Theater und Film in Bukarest, drei Mädchen und drei junge Männer, und ihre gleichaltrige Regisseurin Nona Ciobanu haben mit ihrer Inszenierung unter dem Titel ‘Ewige Jugend und Leben ohne Tod’ ein kleines Wunder zustande gebracht. Die Aufführung dauert nur eine Stunde, doch als Zuschauer hat man den Eindruck, daß in dieser einen Stunde das ganze Universum der Vorstellungswelt junger Menschen auf eine unbeschreiblich spielerische, unsentimental ernste und graziöse Weise ausgeschritten wird.

Mit der Geschichte des Helden der rumänischen Volkssage, der sich weigert, geboren zu werden, bis man ihm ewige Jugend verspricht; der von einem Wunderpferd in die Schönheit und Gefahren des Lebens eingeführt wird, nach vielen Versuchungen ins Land der Unordnung vordringt und schließlich das Märchenland der ewigen Jugend erreicht, dort mit der Zeitlosigkeit seiner Existenz nicht fertig wird, sich nach seinem Ursprung sehnt und den Weg zurück zu seinem eigenen Tod sucht und findet – öffnet die Truppe die Tür in eine Märchenwelt, die Welt des reinen Spiels, die mit kindhafter Phantasie ausgelebt wird, alle Not der uns umgebenden Realität überwindet und in ein Paradies schauen läßt, das dem, der es findet, die Erfahrung zeitlosen Glücksfall verheißt.

Die Truppe spielt ohne Bühnenbild und Kostüme auf und mit einem kleinen Podest, das sich in einzelne Elemente zerlegen läßt, die sich wie die Darsteller selbst fortwährend verwandeln und ihre Bedeutung verändern. Mit einer kindhaften Spiellust, die in dieser Hinsicht alles übertrifft, was ich je gesehen habe, mit artistischer Beweglichkeit, voller Witz und Übermut, in jeder Geste, jedem Ton bis ins kleinste formalisiert und doch traumhaft gelöst, führt sie in das selten betretene Niemandsland der Phantasie, in welchem Theater zu Hause ist, und macht uns bekannt mit einer Sprache des Ausdrucks, die fremd und neu erscheint und doch viel mehr als die uns vertraute zu sagen weiß.

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