die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 30
Theater
Ensemble/Spielort Roundhouse/London
Sendeinfo 1972.04.10/SWF Kultur aktuell 1972.04.11/ORF Wien

Das Roundhouse, ehemals Eisenbahndepot, dann Lagerhalle, seit 1967 gemeinnütziges Zentrum der Künste, ist im Londoner Kulturleben heute ein fester Begriff. Im Memorandum zur Begründung des Roundhouse-Trusts heißt es: ”Das Roundhouse dient der Förderung aller Künste, insbesondere der Gattungen Drama, Pantomime, Tanz, Gesang und Musik“. Neben theatralischen Aufführungen, Konzerten und Ausstellungen bringt das Roundhouse zuweilen auch Veranstaltungen, die in die gängigen Kategorien nicht passen. So fand dort soeben unter dem Titel ‘Play’ (also ‘Spiel’) ein dreitägiges sogenanntes ‘Mitspiel-Ereignis für Kinder und Erwachsene’ statt. Die Räume des oberen Stockwerkes hinter der Ringgalerie wurden an drei Tagen zum Spiel- und Tummelplatz für Groß und Klein, wo man tun durfte, was gerade gefiel. Man zahlte einen Unkostenbeitrag und gehörte damit zur ausgelassenen ‘Spiel-mit-mir-ich-spiel-mit dir’-Familie, in welcher die Kinder sich einmal ohne alle Restriktionen austoben und die Erwachsenen die Fähigkeit, unbeschwert sich dem Spiel zu überlassen, wiedererlernen konnten.

Auf einem Flugblatt, das alle Spiellustigen zum ‘Spiel der Spiele’ einlud, hieß es: “Kommt her zu uns – bleibt solange ihr wollt! Wo und wie und was wollt ihr spielen? Wir haben Raum und Zeit und massenhaft Ideen und Leute, die alle möglichen verrückten Sachen machen: Theaterspiele, Singspiele, Tanzspiele, Improvisations- und Bewegungsspiele, Puppenspiele, Verwirrspiele, Tontöpferei, Bau von Riesenschlangen, Fertigen von Collagen, Malen mit Farben, Pinsel und Fingern, Bemalen von Wänden, Körperbemalung – laßt euch überraschen, überrascht uns und überrascht euch selbst : Play!”

Die Grundidee der Veranstaltung war: Kindern und Eltern ein praktisches Modell für produktives Spielen vorzuführen, Spielen als Gestalten. In den meisten Familien heißt Spielen heute fast nur noch: Handhabung und Umgang mit den Fertigprodukten der Spielwarenindustrie, deren Miniaturabbildungen von Gegenständen der realen technischen Umwelt allzu leicht das Interesse der Kinder gewinnen, ihren Anspruch an die Eltern, die immer ausgefallenere Wünsche erfüllen sollen, höher und höher schrauben, jedoch Phantasie und Gestaltungsdrang der Kinder in sträflicher Weise vernachlässigen. Selbst wo die Kinder ihr eigenes Spielzimmer haben, werden ihnen normalerweise Regeln oktroyiert, die ihnen gerade das verbieten, was sie am liebsten täten: Böden und Wände zu bemalen; Spielsachen und Mobiliar zu zerlegen und mit den Teilen zu manipulieren, also die Gegenstände als Rohmaterial zu behandeln, mit dem sich etwas tun läßt; unbegrenzt zu lernen; sich und ihre Kleidung umzugestalten und vieles ähnliche mehr. Hier im Roundhouse sollten einmal alle Hemmungen und Beschränkungen fallen und ein Spielerlebnis ermöglicht werden, das Kindern und Erwachsenen zunächst einmal Spaß machen und ihnen darüber hinaus Anregungen geben sollte für produktivere Freizeit- und Spielzeit-Gestaltung.

Die Wände waren behängt mit Papierbahnen, auf die jeder nach Belieben malen konnte. Lustige handgeschriebene Plakate forderten zu allen möglichen Aktivitäten auf

“Entspann dich, fühl dich frei!“, hieß es immer wieder, “Sei ein Clown!“, “Wer länger spielt, lebt länger”. Die meisten Kinder, vom Babyalter bis zu etwa 13 Jahren, blieben nicht lange unbeteiligte Zuschauer, holten sich Farben und Papier und begannen zu malen oder Klebebilder zu fertigen aus Eierschachteln, Milchflaschendeckeln, Kartons und Illustriertenblättern, sich am Bau eines Fabeltieres aus Draht und Zeitungspapier zu beteiligen, auf Tischen zu tanzen oder mit Stöcken auf Metallfässern und Eimern den Takt zur Musik zu schlagen, im naßweichen Ton zu kneten oder auf der Töpferscheibe kleine Gefäße zu formen. Andere schauten den Erwachsenen zu, die nebenan unter Anleitung von Pantomimen, Schauspielern oder bildenden Künstlern Ausdrucksstudien, Kontakt- oder Zeichenspiele übten oder in einem mit Plastikbahnen ringsum ausgehängten Raum, selbst von oben bis unten in Plastiktüten eingepackt, umgeben von weißen Papierbergen das Erlebnis genossen, kübelweise mit leuchtenden Farben überspritzt zu werden.

Am Ende des letzten Tages wurden die besten und schönsten Arbeiten der Kinder zu Minimalpreisen versteigert, wobei die Sechsjährigen schon wie alte Auktionshasen eifrig mitboten.

Am Erfolg von ‘Play’ war, bei so viel glücklichen Gesichtern, nicht zu zweifeln.

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