die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 50
Autor Georg Büchner/ Charles Marowitz/ Heinrich von Kleist/ James Saunders
Theater
Titel Woyzeck/ Hans Kohlhaas
Ensemble/Spielort Open Space Theatre/ Greenwich Theatre/ London
Inszenierung/Regie Charles Marowitz/ Frederick Proud
Uraufführung
Sendeinfo 1973.02.20/SWF Kultur aktuell (Woyzeck) 1973.02.24/SWFKultur aktuell (Hans Kohlhaas) 1973.03.01/ORF Wien (Woyzeck & Hans Kohlhaas) 1973.03.01/BBC German Service (Woyzeck & Hans Kohlhaas) 1973/03.01/Nachdruck: Darmstädter Echo

Eine seltsame Koinzidenz brachte innerhalb einer Woche die Neubearbeitung von zwei klassischen Werken der deutschen Literatur auf Londoner Bühnen – ‘Woyzeck’ und ‘Kohlhaas’ – Fallstudien über zwei von der Gesellschaft Mißhandelte, der eine passiv, unterwürfig, gehorsam und Unrecht schweigend duldend, das ihm geschieht, der andere dagegen aufbegehrend, seinen Rechtsanspruch mit Gewalt erzwingend; zwei Gescheiterte, die auf ähnliche Weise enden.

Charles Marowitz, Leiter des Open-Space-Theaters und respektlos-radikaler Bearbeiter sakrosankter Texte, hat Büchners ‘Woyzeck’ wiederentdeckt, 25 Jahre nach der letzten Londoner Inszenierung des Stückes, nun vorgestellt in einer freien Adaptation von Charles Marowitz. Im Gegensatz zu der skrupellosen Behandlung, die er Shakespeares großen Tragödien zuteil werden ließ, um sie aus der von Brecht so gescholtenen “Tradition der Schädigung klassischer Werke“ durch einen falsch verstandenen Begriff von Werktreue zu befreien, hält sich die Bearbeitung des ‘Woyzeck’ äußerlich erstaunlich eng an den überlieferten Originaltext. Die Veränderungen und Ergänzungen arbeiten nicht gewaltsam gegen die Tendenz des Originals, sondern dienen der Interpretation des Büchnerschen Werkes, das wegen seiner fragmentarischen Form und der Widersprüche der verschiedenen, teilweise unleserlichen Manuskriptentwürfe der inszenatorischen Interpretation einen besonders weiten Spielraum gewährt.

Charles Marowitz’ Shakespeare-Bearbeitungen waren gezielte Provokationen, Anschläge auf die bürgerliche Ehrfurcht vor der Klassizität der zu literarischen Denkmälern verkommenen Werke. Die an Büchners ‘Woyzeck’ vorgenommenen Veränderungen richten sich nicht gegen eine bestimmte Tradition der Aufführung des Werkes, die es in diesem Fall nicht gibt, sondern auf die Verdeutlichung dessen, was als gesellschaftliche Moral des Stückes gelten kann, die rationale Quintessenz der ‘ersten proletarischen Tragödie’.

Marowitz stützt sich im wesentlichen auf den mutmaßlich letzten der uns bekannten Manuskriptentwürfe, baut jedoch eine Art Rahmen darum, der sich stärker auf das historische Vorbild bezieht, jenen armen Barbier, der 1825 auf dem Leipziger Marktplatz enthauptet wurde. Das Stück beginnt mit Gerichtsspruch und Urteilsbegründung und schließt mit Zeugenaussagen vor einer imaginären richterlichen Instanz. Woyzeck endet hier also nicht im Teich, sondern wie das historische Vorbild auf dem Richtblock: die Gesellschaft, die ihn seelisch zugrunde richtete, bringt ihr Opfer schließlich auch physisch zur Strecke.

Dem Urteilsspruch am Anfang folgt das Märchen der Großmutter von dem unglücklichen Kind in einer toten Welt aus der Szene vor der Ermordung Maries, das hier zur Metapher wird für das Schicksal der vielen Woyzecks in aller Welt, an die der Doktor in den von Marowitz epilogartig nachgestellten Zeugenaussagen dann noch einmal ausdrücklich erinnert. Die übliche Reihenfolge der Szenen ist teilweise verändert worden; einige Szenen an gleichem Ort wurden geschickt zusammengefaßt, der Aufmarsch der Soldaten mit dem Tambourmajor wird von drei Figuren mit übergroßen Grotesk-Uniformen aus buntglänzender Pappe angedeutet; wie überhaupt Symbole eine wichtige Rolle spielen.

Durch Wiederholung einer Szene oder einzelner Sätze, die Einführung eines Flugblatt verteilenden Revolutionärs, die Kommentare der Zeugen, die Kompilation der gelehrten Vorträge des Doktor-Professors (den Marowitz mit deutschem Akzent spielen läßt) wird das gedankliche Konzentrat von Büchners ‘Woyzeck’ herauspräpariert, eine Operation, die zwar mit faszinierender Konsequenz durchgeführt wird, den Patienten dabei jedoch sozusagen durch Blutverlust schwächt: die Personen verblassen, werden abstrakt, zu Funktionen eines Systems, das den Individuen den Garaus macht. Marie wird zum leicht verführbaren treulosen Mädchen, der Tambourmajor zur flachen Karikatur eines eitlen Frauenhelden, Doktor und Hauptmann verlieren an Gefährlichkeit und Woyzeck hat beinahe debile Züge. Auch der Einfall, in der Schaustellerszene Woyzeck selbst den Affen in Uniform und das ‘humanisierte’ Pferd spielen zu lassen, bringt zwar die Idee des dressierten Menschentieres heraus, führt die Figur jedoch aus der Glaubwürdigkeit realistischen Verhaltens.

Trotz dieser kritischen Einwände verdient Marowitz für seinen ebenso klugen wie einfallsreichen Versuch der Interpretation des ‘Woyzeck’ aus Büchnerschem Geist Anerkennung und Lob, woran es die Londoner Kritiker denn auch nicht fehlen ließen.

‘Hans Kohlhaas’ von James Saunders wurde im vergangenen Jahr mit einer Gruppe von Amateuren entwickelt und nun in Greenwich erstmals auf eine professionelle Bühne gebracht. Das Stück ist episches Theater reinster Sorte. Saunders hat die englische Übersetzung des Kleistschen ‘Michael Kohlhaas’ so wortgetreu erhalten, daß die Umbenennung der Titelfigur schon zu den bedeutsamen Veränderungen gehört. Er hat mit genialischem Handstreich Kleists dramatische Novelle zum epischen Theaterstück umfunktioniert, den Text gestrafft, die rein berichtenden Passagen auf verschiedene Darsteller verteilt, Szenenansagen und kurze Zwischenkommentare eingebaut, hat die märchenhafte Episode mit der Zigeunerin und dem Amulett am Schluß der Novelle herausgestrichen, sonst aber den Ablauf der Geschichte fast wörtlich übernommen und sich vor allem die Unparteilichkeit des Autors bewahrt, der es dem Publikum überläßt zu entscheiden, wie weit der Roßhändler Kohlhaas eine gerechte Sache vertritt oder selbst verbrecherisch handelt an der Gesellschaft, deren Ordnung er als von Gott gegeben anerkennt.

Die Inszenierung von Frederick Proud mit dem Ensemble des Greenwich Theatre besticht durch Leichtigkeit und kühle Schönheit. Getreu den Regeln des epischen Theaters liegt das Hauptaugenmerk bei der Entwicklung der Fabel und den Wendepunkten des Verlaufs, die durch gesprochene Szenentitel deutlich gemacht werden.

Nach der Einführung in die Geschichte stellen sich die Schauspieler selbst mit den Rollen, die sie darstellen werden, dem Publikum vor. Sie agieren auf einem großen sechseckigen Podest, das wie ein riesiges Hufeisen wirkt, mit zwei hohen Galgenradpfählen im Hintergrund, die durch einen Querbalken schrankenartig verbunden sind. Die Szenenform des Brechtschen Antigonemodells hat hier Pate gestanden: die Schauspieler sitzen im Halbkreis während der Vorstellung hinter dem Szenenpodest, an das sie in lockerer Haltung herantreten, bevor sie sichtbar in ihre Rollen einsteigen. Es gibt keine überflüssigen Gänge, keine sinnlosen Bewegungen, keine unkontrollierten Gesten und kein ‘theatralisches Feuer’ (wie einer der Kritiker nachher tadelte), die Sprache kommt gereinigt von falschem Pathos sehr natürlich, handfest, direkt und klingt verblüffend modern.

Der ‘Kohlhaas’ von Saunders ist der ‘Kohlhaas’ von Kleist, zubereitet und serviert nach den Rezepten von Brecht; das ganze eine faszinierende Aufführung, die für das englische Theater selbst Modellcharakter haben, es aus seiner Brechtophobie erlösen könnte.

Nach Oben