die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 234
Theater/ Kulturpolitik
Sendeinfo 1988.04.07/SFB 1988.04.1/SWF Kultur aktuell/SRG Basel

Für die 42 kommerziellen Theater des Londoner Westends ist das vergangene Jahr ein Rekordjahr gewesen. Mit elf Millionen Zuschauern lag das Ergebnis etwa 6% über den Zahlen des Jahres 1986 und übertraf den 1985, im Jahr des überstarken US-Dollars, erreichten bisherigen Rekord um 85.000 Besucher. Die Zeitung ‘Daily Telegraph’, die in der vergangenen Woche die Erfolgsmeldung bekannt machte, schreibt, die britische Hauptstadt bestätige damit ihren Ruf als “bedeutendstes Zentrum der Unterhaltung in der Welt”. Dies könnte (und soll gewiß auch) den Eindruck erwecken, daß es dem englischen Theater generell unter dem Thatcher-Regime wohlergehe. Der Eindruck täuscht: das Gegenteil ist der Fall.

Im Hinblick auf die Lustbarkeiten der kommerziellen Bühnen des Londoner Westends, die ohne öffentliche Gelder arbeiten können, weil sie überwiegend Boulevardstücke vorstellen, die sich entsprechend gut verkaufen, – im Blick auf die Westend-Theaterbühnen trifft das Wort ‘Unterhaltung’ (entertainment) genau jenen Aspekt der Sache, der sie verkäuflich macht. Daß die meisten Produkte der Unterhaltungsindustrie künstlerisch nicht allzu hohen Ansprüchen genügen, scheint die zahlenden Zuschauer kaum zu stören.

Blickt man zurück auf die Siebzigerjahre, eine für das Londoner Theater besonders reiche und fruchtbare Zeit, wirken die Achtzigerjahre wie Zeiten der Dürre und großen Verarmung. Der von der britischen Regierung sogenannte wirtschaftliche Aufschwung hat (wie inzwischen jeder weiß) dazu geführt, daß die Reichen im Lande reicher, die Armen viel ärmer geworden sind, weite Teile der britischen Großstädte sich in Slums verwandelt haben und im Bereich der Künste wie im Gesundheits- und Erziehungswesen ein Prozeß der Verwüstung stattfindet, der für die Zukunft verheerende Konsequenzen haben dürfte.

Für die Theater bedeutet dies, daß sie mit der effektiven Kürzung staatlicher und städtischer Gelder zurecht kommen müssen, das heißt immer mehr auf private Sponsoren angewiesen sind. Selbst die beiden vergleichsweise fürstlich subventionierten größten Schauspielbühnen des Landes, Nationaltheater und Royal Shakespeare Company, haben im Laufe der letzten Jahre die zeitweise Schließung eines ihrer Theater in Betracht ziehen müssen. Andere haben ihren Spielplan drastisch reduziert. Die Angewiesenheit auf private Geldgeber (Banken, Versicherungen, Ölgesellschaften) schränkt die Bereitschaft zum künstlerischen Risiko ein und fördert die Bereitschaft zur politischen Selbstzensur. Und weil Stücke im Kammerspielformat mit sehr kleiner Besetzung viel eher die Chance haben, zur Aufführung angenommen zu werden, wagen sich die Autoren kaum noch an größere Projekte heran.

Die meisten namhaften Dramatiker, die vor zehn oder fünfzehn Jahren fast ausschließlich für das Theater schrieben und der englischen Bühnenkunst zu weltweitem Ansehen verhalfen, haben sich inzwischen den Medien Film, Fernsehen und Rundfunk zugewandt oder gehen (wie Edward Bond) davon aus, daß sie in dem jetzigen politischen Klima für ihre Arbeit kaum noch eine Basis haben.

Unter der Überschrift “Wo sind alle unsere Bühnendichter hingekommen?” schrieb der Londoner Theaterkritiker Michael Billington kürzlich im ‘Guardian’: “Man hat das Gefühl, daß in den Jahren 1970 bis 1985 das Theater in Großbritannien die natürliche Arena war für Debatte, Diskussion und Protest. Das ist zwar bis zu einem gewissen Grade noch immer der Fall. Aber mich beunruhigt die Tatsache, daß neue Stücke heute viel zu selten darauf angelegt sind, ihrer Zeit den moralischen Puls zu fühlen. Die Reputation des britischen Theaters ist in Gefahr”.

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