die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1973
Text # 58
Autor Peter Ustinov
Autorenporträt
Hauptdarsteller Peter Ustinov
Sendeinfo 1973.06.73/DW Köln

Fast fünf Monate lang hatte er Abend für Abend in derselben Rolle auf der Bühne des New London Theatre gestanden, in seinem Stück vom ‘Unbekannten Soldaten’, mit dem das neue Theater eröffnet worden war – ein theatralisches Marathon, das ihm, dem Vielseitigen, besonders schwer gefallen sein mußte. Wir trafen uns zwischen zwei Vorstellungen, den beiden letzten der Serie, in seiner Garderobe. Da saß er: Peter Ustinov, Stückeschreiber, Regisseur und Schauspieler, Drehbuchautor und Filmproduzent, Mitglied von vierzehn Gewerkschaften, Ehrendoktor für Literatur der Universität Lancaster, Ehrenrektor der Universität Dundee, prominenter Aktivist der Weltkinderorganisation UNICEF und (last but not least) begeisterter Tennisspieler – Peter Ustinov, dessen internationaler Stammbaum zum Symbol seiner kosmopolitischen Haltung wurde: Sohn eines deutschen Vaters russischer Abstammung und einer russischen Mutter französischer Abstammung, mit einem kanadischen, einem argentinischen Onkel, einer libanesischen Tante, einer Großmutter mit äthiopischen Vorfahren; er selbst wurde in Leningrad gezeugt, geboren in London, heiratete eine Engländerin, dann eine Kanadierin und schließlich in dritter Ehe eine Französin – Peter Ustinov, Sprachtalent und großer Sprachenimitator, Genie der Vielseitigkeit.

Seine Garderobe im New London Theatre ist eine enge, fensterlose Betonzelle. Es ist heiß. Ustinov empfängt mich im Negligé: gewaltiger Wuschelkopf, fleischiges Gesicht, kurzer Hals; er trägt einen dünnen Morgenmantel, darunter wölbt sich ein ungeheurer Bauch; nackte, haarige Brust; Sandalen – ein fetter, schwitzender Buddha, der sich mit kummervoller Miene über den Leib fährt und erklärt, der sei noch voll Champagner, denn seine Tochter habe am Morgen geheiratet.

Der Koloß wirkt müde. Ob er froh sei, daß die Aufführungsserie zuende sei, frage ich. Weiß Gott – , sagt er, zumal die Arbeitsbedingungen alles andere als vorbildlich waren in diesem brandneuen Theatergebäude, das bei seiner Eröffnung als „das modernste und best ausgestattete Bühnenhaus der Welt“ vorgestellt worden war. Aus dem schweren Körper kommt eine überraschend jugendliche Stimme. Man kann sich kaum vorstellen, daß dieser Mann nicht nur den Tennissport liebt, sondern sich auch gelegentlich noch mit Weltklassespielern mißt. Doch sein flinker Witz, die geistige Behendigkeit im Gespräch, seine sprachliche Brillianz sind beinahe unschlagbar. Ustinov ist der ideale Erzähler, sein Reservoir an Geschichten scheint unterschöpflich zu sein, wie seine Energien, die er nach allen Seiten ausgibt.

Fragt man ihn, als was er sich selbst vor allem sehe, antwortet Ustinov: Er sei das, was man jeweils von ihm halte. Er haßt Kategorien und Kennmarken, die einer Person einen festen Stellenwert zuweisen. Wie paßt zum Beispiel zum Bild des harmlosen Spaßmachers, als der sich Ustinov meistens gibt in den Filmen und Fernsehshows, in denen er mitwirkt, die Rolle des Rektors einer englischen Universität, der in einer Antrittsrede über das Thema ‘Unrecht’ referiert und dabei ausführt: “Fallen Bomben auf falsche Ziele, reagiert darauf das Gewissen nicht, sobald ein Computer-Irrtum nachgewiesen werden kann”. Das Geld, das von den reichen Ländern während eines ganzen Jahres für die Versorgung notleidender Kinder in armen Ländern aufgewandt werde, entspreche der Summe, welche die reichen Länder in zwei Stunden für Waffen ausgeben. Denn diese Kinder erhielten für Essen, Medizin, Lernmittel und ähnliches pro Jahr insgesamt nicht mehr als den Gegenwert von zwei modernen Bombern.

Wer das Unrecht in der Welt so emotionslos vor Augen sieht und dabei nicht die Laune zum Spaßen verliert, muß Optimist sein.

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