Die Londoner Zeitung ‘Daily Telegraph’ teilte im Februar dieses Jahres mit, in der Shakespearestadt Stratford-on-Avon plane man die Einrichtung eines neuen, alternativen Shakespeare-Museums. Dort wolle man alle Indizien versammeln, die darauf hindeuten, daß William Shakespeare nicht der Autor der unter seinem Namen bekannten Stücke gewesen und der Kult um seine Person ein großer Schwindel sei. So kurios der Einfall erscheinen mag, ist er doch kaum originell und nur der jüngste Irrtrieb einer langen Reihe von Versuchen, die Autorenschaft Shakespeares infrage zustellen.
Der Umstand, daß uns über die Person des Dichters so gut wie keine persönlichen Dokumente erhalten geblieben sind – ein paar Eintragungen in Kirchenbüchern, einige Quittungen und Kaufverträge sowie ein Testament sind alles, was wir an direkten Belegen besitzen – gab Anlaß zu den wildesten Spekulationen.
Unbestritten ist die Tatsache, daß William Shakespeare am 23. April 1564, also vor 425 Jahren, in Stratford-on-Avon geboren wurde; daß er 1582 eine Dame namens Anne Hathaway ehelichte und mit ihr drei Kinder hatte; daß er Ende der Achtzigerjahre nach London ging, wo er als Schauspieler und Bühnenautor schnell Karriere gemacht zu haben scheint (ein Londoner Kritiker spricht schon 1598 von ihm als dem größten Dramatiker des englischen Theaters); daß er verschiedene Häuser erwarb, Mitdirektor des Globe-Theaters war, sich um 1612 wieder nach Stratford zurückzog, im März 1616 sein Testament schrieb und an seinem 52. Geburtstag, am 23. April 1616, starb.
170 Jahre nach seinem Tod wurden zum ersten Mal Zweifel an der Autorenschaft der unter seinem Namen veröffentlichten Gedichte und Dramen laut. Seither ist eine Fülle abenteuerlicher Legenden entstanden. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, daß ein Mann aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, der im 16. Jahrhundert in einem abgelegenen Winkel der englischen Midlands, in einem Städtchen von damals 1500 Einwohnern aufwuchs, der Dichter von Werken war, die nicht nur von einer ganz außergewöhnlichen Bildung zeugten, sondern an poetischem Reichtum alles übertrafen, was es seit der griechischen Antike gegeben hatte. Wissenschaftler hatten errechnet, daß Shakespeare über ein Vokabularium von 16000 Wörtern verfügte, während der Dichter John Milton sich mit 8000 Wörtern, die Autoren des Alten Testaments sogar mit nur 6000 Wörtern begnügten.
Die Phantasie der Shakespeareforscher schien grenzenlos. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wuchs die Liste der Anwärter auf die Rolle des größten Bühnendichters aller Zeiten auf 56 Personen an. Darunter fanden sich so bedeutende Namen wie Francis Bacon, Walter Raleigh, Kardinal Wolsey und Christopher Marlowe. Selbst Königin Elisabeth und ihr Nachfolger Jakob I traute man die Autorenschaft der Werke Shakespeares zu.
Noch im November des Jahres 1988 kam es in dem historischen Saal des Middle Temple im heutigen Gerichtsviertel Londons in Anwesenheit von 300 Gelehrten und Literaturenthusiasten zu einer eigenartigen Schein-Gerichtsverhandlung unter dem Vorsitz von drei Law Lords (Richter des höchsten britischen Gerichts), die darüber entscheiden sollten, ob Eward de Vere, der 17. Graf von Oxford, nicht in Wahrheit der Autor der Werke Shakespeares gewesen sei; eine Veranstaltung, die auf Anregung des amerikanischen Schauspielers Sam Wanamaker zustande kam, der das historische Shakespeare-Theater ‘The Globe’ am Südufer der Themse originalgetreu wiederaufbauen lassen will. Das Tribunal wies den Antrag der Anwälte des Grafen von Oxford als “unwahrscheinlich” zurück.
Wer wissen will, was der elisabethanische Autor uns 425 Jahre nach seiner Geburt noch bedeutet, sollte sich nicht an dem von kommerziellen Interessen gesteuerten ungeheuren Boom der Shakespeare-Devotionalienindustrie orientieren, sondern an dem unvermindert anhaltenden, beispiellosen Erfolg der Stücke des meistgespielten Bühnendichters der Welt. Man sagt, jede Zeit habe ihren Shakespeare. Unsere Zeit scheint, unter anderem, in der Grausamkeit von Shakespeares Tragödien die eigene Gegenwart wiedererkannt zu haben, die Grausamkeiten, die heute geschehen, von uns begangen oder geduldet und so mitverschuldet werden.
Man spielt die Stücke in England heute wieder (wie zu Lebzeiten Shakespeares) auf dekorationslosen Bühnen, in hellen, klar gegliederten, auf den genauen Wortsinn der Texte, ihren Rhythmus, den Wechsel zwischen Prosa und Vers, die Nuancen der Wortfolge abgestimmten Inszenierungen. Die Theaterleute haben gelernt, daß sich der Sinn der Stücke aus ihrer sprachlichen Form erschließen läßt, daß es darauf ankommt, die szenische Darstellung aus der Struktur der Texte selbst zu entwickeln, Sprache ins Szenische zu übersetzen. Es ist die Aufgabe des Theaters, den in den Texten verschlüsselten Sinn zu entziffern.
Für das Theater und sein Publikum ist der Streit um die Person des Dichters William Shakespeare ohne jede Bedeutung. Was zählt, sind die Werke selbst. Sie sprechen für sich, für ihren Autor und für uns, herrlich wie am ersten Tag.