die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1970
Text # 7
Theater
Ensemble/Spielort Royal Shakespeare Company/Roundhouse/London
Sendeinfo 1970.11.27/BBC German Service/Kulturkaleidoskop

“Als königliche Stiftung gegründet und staatlich subventioniert, unter der Schirmherrschaft der Königin, gehört die Royal Shakespeare Company der ganzen Nation“. Nach dieser stolzen Definition versteht sich die Gesellschaft als zweites Nationaltheater in Großbritannien. Beinahe das ganze Jahr über spielt sie gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten, in Shakespeares Geburtsstadt Stratford-upon-Avon und im Londoner Aldwych Theatre. Ein Teil des künstlerischen Personals ist außerdem fast ständig auf Reisen; man gastiert in Provinzstädten, in Schulen, Hochschulen und Gemeinschaftszentren mit Inszenierungen, die eigens für diesen Zweck eingerichtet, das heißt vor allem technisch unaufwendig und beweglich sind. Im Rahmen eines Festivals im Londoner Roundhouse Theatre, einem zirkusähnlichen Rundbau, werden in diesen Wochen gerade einige dieser Gastspielinszenierungen dem hiesigen Publikum vorgestellt, gemeinsam mit ‘Studiovorführungen’ der jüngsten Arbeiten aus Stratford, Publikumsdiskussionen und einer Reihe von sogenannten Arbeitsdemonstrationen – alles in allem ein Versuch, der besonders die Jugend anspricht und ihr die Möglichkeit bietet zu erfahren, wie man heute mit alten Stücken modernes Theater macht.

Die Arbeit der Royal Shakespeare Company konzentriert sich in Stratford ausschließlich auf die Stücke Shakespeares und seiner Zeitgenossen, die auch im Londoner Aldwych Theatre, das die Inszenierungen aus Stratford normalerweise übernimmt, eine maßgebliche Rolle spielen. Daneben kommen hier alljährlich auch einige moderne Werke zur Aufführung, wie in diesem Jahr zwei Einkakter von Pinter, Shaws ‘Major Barbara’ und ‘Die Plebejer proben den Aufstand’ von Günter Grass.

Die Royal Shakespeare Company ist ein Ensembletheater, das sein Personal durch langfristige Verträge zusammenhält und eben dadurch, im Unterschied zu den meisten Bühnenunternehmen Englands, einen geregelten Repertoirebetrieb aufrechterhalten und durch die ständige Zusammenarbeit derselben Schauspieler und Regisseure künstlerische Kontinuität garantieren kann. Das Theater hat, wie man verlauten läßt, keinen bestimmten Stil entwickelt, keine besondere Darstellungstechnik, die Schule machen könnte wie etwa die Ensemblearbeit Stanislawskis oder Brechts. Dazu scheint den Engländern einfach der für uns Deutsche so typische Hang zur Systematisierung, Theoretisierung und Dogmatisierung zu fehlen. Worin liegt dann aber das Besondere dieses Theaters?

Wenn man jüngere Leute danach fragt, welches der größeren Londoner Theater sie besonders interessiere, dann hört man: vor allem die Royal Shakespeare Company. Und in der Tat wirken die besten Aufführungen im Aldwych Theatre ausgesprochen jung, vital, beweglich und trotz der beliebten Ritualisierung der Szenenabläufe jugendlich ungestüm oder übermütig, expressiv, aufregend theatralisch. Um dies zu verstehen, muß man sich daran erinnern, daß die RSC erst am Anfang der Sechzigerjahre gegründet wurde; daß sie stets von sehr jungen Leuten geleitet wurde (der jetzige künstlerische Direktor Trevor Nunn ist noch keine 30 Jahre alt); und daß sie von einem jungen Schauspielerensemble getragen wird, das hart zu arbeiten gewöhnt ist und sich durch regelmäßiges Training physisch und psychisch fit hält.

Wie dies geschieht, wird vor allem in den sogenannten Arbeitsdemonstrationen im Roundhouse durch einige Schauspieler unter der Leitung des Pantomimen John Broome und der Regisseure John Barton, Terry Hands und Buzz Goodbody dem interessierten Publikum vorgeführt. Im lockeren Gespräch mit den Zuschauern erläutern sie an praktischen Beispielen Probleme moderner Schauspieltechnik.

Broome ist für das gesamte Bewegungstraining verantwortlich und gilt als Fachmann für die Führung von Massenszenen und alle möglichen choreografischen Aufgaben. In zwei Gruppen trainiert er täglich die Schauspieler des Ensembles. Die erste Gruppe beschränkt sich auf allgemeine Bewegungsübungen und ist für alle Ensemblemitglieder bestimmt, die freiwillig daran teilnehmen wollen; die zweite Gruppe dient zur Vorbereitung auf die Aufgaben der nächsten Inszenierung und ist für die darin beteiligten Schauspieler obligatorisch.

Man wird noch einmal daran erinnert, daß der Schauspieler kein anderes Instrument zur Verfügung habe als den eigenen Körper, den er mühelos bis in die kleinste Bewegung kontrollieren müsse, ohne die natürliche Lockerkeit zu verlieren. Der Zuschauer, der eine fertige Aufführung sieht und zumeist nicht ahnt, welche Mühen es kostet, bis eine Szene, die nachher so leicht und einfach wirkt, endlich “steht“ (wie es heißt im Jargon) – dieser Zuschauer erlebt hier bei den Veranstaltungen im Roundhouse vielleicht zum ersten Mal, wie komplexe Bewegungsabläufe in kleinste Teilbewegungen zerlegt werden, die einzeln eingeübt, dann wieder zusammengesetzt und erst ganz zum Schluß auf das natürliche Tempo beschleunigt werden. Er erfährt, wie man das Zusammenspiel zweier Akteure oder größerer Gruppen ermöglicht, die sich so blind verstehen sollen, daß sie auch ohne ein besonderes Signal im gleichen Augenblick wie von einer unsichtbaren Hand geführt gemeinsam die gleiche Bewegung ausführen. Er sieht, wie Fechtszenen mühevoll arrangiert und geprobt werden, die einen Zweikampf auf der Bühne möglichst gefährlich erscheinen und für die Darsteller zugleich möglichst sicher und ungefährlich sein lassen. Und er erfährt von der Arbeit des Schauspielers am Text der Stücke, die eine Fülle schwierigster Probleme mit sich bringen kann, wovon der Zuschauer bei der Vorstellung nicht das geringste bemerken soll.

Allein die Reaktion der zahlreichen Schüler, die vor allem den Fechtvorführungen mit größter Begeisterung zusahen, beweist den Erfolg der Veranstaltungsreihe: die Zwölfjährigen, die da auf die Bühne klettern, die schweren Schwerter und Schilde selbst in die Hand nehmen und sich mit frisch angerührtem Bühnenblut die Gesichter bemalen durften, werden vermutlich später auch als Erwachsene dem Theater die Treue halten.

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