die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1993
Text # 341
Autor Friedrich Schiller
Theater
Titel Wallenstein
Ensemble/Spielort Cottesloe Theatre/Royal Shakespeare Company/London
Inszenierung/Regie Tim Albery
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1993.09.15/WDR Mosaik,/SDR/RIAS/DS Kultur 1993.09.22/Darmstädter Echo (versch. Fassungen)

Es ist ein sonderbares Gefühl, die britische Erstaufführung eines großen klassischen Werkes der deutschen Literatur, mit dem man seit seiner Jugend vertraut ist, zu erleben und dabei festzustellen, wie naiv man war zu glauben, daß Goethe, Schiller und Kleist im europäischen Ausland ebenso bekannt seien wie bei uns Shakespeare oder Molière; daß man auch hier von Zeit zu Zeit ihre Stücke spiele, so daß sie nicht nur den Germanisten, sondern der Mehrheit der Gebildeten im Lande einigermaßen vertraut seien. Nachdem ich selbst bereits das Vergnügen hatte, die britische Erstaufführung der ‘Räuber,’ des zweiteiligen ‘Faust’, der Schauspiele ‘Prinz von Homburg’ und ‘Penthesilea’ zu feiern, darf ich nun die gute Nachricht melden, daß es der Royal Shakespeare Company gelungen ist, Schillers größtes Bühnenwerk, das dramatische Gedicht ‘Wallenstein’, zum ersten Mal auf einer britischen Bühne vorzustellen.

Der Regisseur Tim Albery hat den ersten Teil der Trilogie, ‘Wallensteins Lager’, gestrichen und die beiden fünfaktigen Dramen ‘Die Piccolomini’ und ‘Wallensteins Tod’ auf eine Spieldauer von dreieinviertel Stunden zusammengezogen. Im Programmheft heißt es, man habe die Absicht verfolgt, das Werk auf Proportionen zu reduzieren, die ein englisches Publikum handhaben könne, und “das komplexe und unbekannte historische Material zu vereinfachen, dabei aber Handlung, Rollen und Thema zu bewahren“. Um den Verlauf der Handlung klarer zu machen, habe man hier und da die Szenenfolge verändert. Im übrigen sei auch die Übersetzung von Francis Lamport sprachlich geglättet und vereinfacht worden.

Während man in Deutschland ‘Wallenstein’ stets auf den größten Bühnen spielen läßt, hat die Royal Shakespeare Company dem Stück nur ihr kleines Studiotheater The Cottesloe Theatre zugestanden. Außer einer alten Landkarte von Mitteleuropa auf einer quadratischen Holzplatte, die auch als Tisch verwendet wird, und einem Dutzend einfacher Stühle gibt es kein Bühnenbild. Die Uniformen der Herren und die langen Kleider der Damen entsprechen der Mode des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die Intimität des Raumes verlangt einen Kammerspielton.

Schlimmer ist die Tatsache, daß die drastische Kürzung der Texte auf ein Drittel ihres Umfangs leider nicht zum besseren Verständnis beiträgt, sondern an die Substanz der Stücke geht. Was Albery Vereinfachung nennt, reduziert den Konflikt bis auf den Punkt, daß von tragischer Verwechslung kaum mehr die Rede sein kann und der Eindruck entsteht, als handle Wallenstein vor allem aus Machthunger, habe den Abfall vom Kaiser geplant und die Absicht, im Interesse des Allgemeinwohls Frieden zu stiften, nur vorgetäuscht. Er hat sich politisch verkalkuliert und muß für den Irrtum bezahlen. Der verlogene Octavio Piccolomini aber scheint als des Kaisers treuer Vasall und Vertreter der alten Ordnung das Recht zu verkörpern.

Freilich, verkürzt auf den Loyalitätskonflikt hat uns das Schauspiel heute kaum noch etwas zu sagen. Das uns, was da verhandelt wird, so wenig interessiert, ist jedenfalls nicht die Schuld der Darsteller, die sich redlich bemühen, das Vorhaben sinnvoll und wichtig erscheinen zu lassen. Doch wer die Wallenstein-Trilogie im Original nicht kennt, mag sich fragen, warum die Royal Shakespeare Company nach zweihundert Jahren sich genötigt sah, diesen alten deutschen Schinken überhaupt auszugraben.

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