die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1983
Text # 186
Autor Yuri Lyubimov
Theater/ Kulturpolitik
Sendeinfo 1983.09.15/ RIAS/DW/SRG Basel 1983.09.16/SWF/RB/SFB

Gerüchte, daß der russische Regisseur und Leiter des Moskauer Taganka-Theaters Yuri Lyubimov, der sich seit Mitte Juli in London aufhielt, vorhabe, im Westen zu bleiben, wurden von Lyubimov inzwischen eindeutig dementiert. In den Meldungen britischer Zeitungen hieß es am Donnerstag, Lyubimov habe erklärt, er wolle nach Moskau zurückkehren. Durch die offene Kritik an der sowjetischen Zensur, die seine drei letzten Inszenierungen verboten hatte, und durch seine Weigerung, sich zu Gesprächen in der sowjetischen Botschaft einzufinden, hatte Lyubimov den in den letzten Wochen umlaufenden Spekulationen, er werde vermutlich im Westen bleiben, indirekt Vorschub geleistet.

Lyubimov hat London verlassen und ist nach Bologna geflogen, wo er ‘Tristan und Isolde’ inszenieren soll. Bei seiner Ankunft in Italien stellte er sich der Presse mit den Worten: “In englischen Zeitungen heißt es, der KGB habe mich gekidnappt. Nun, ich bin frei und spreche zu Ihnen als sowjetischer Bürger, der nicht die Absicht hat, im Westen um politisches Asyl zu bitten“. Er werde sich wegen eines nervösen Leidens zu einem Mailänder Arzt in Behandlung begeben und nach Rußland zurückkehren, sobald seine Gesundheit dies zulasse. Den russischen Behörden gegenüber habe er präzise Forderungen gestellt. “Ich warte auf ihre Antwort”. Wenn er Theaterstücke nicht so aufführen dürfe, wie er wolle, dann müsse man eben auf seine Arbeit ganz verzichten.

Bryan Appleyard, der Lyubimov Anfang des Monats in einem ausführlichen Interview der Londoner Zeitung ‘Times’ Gelegenheit gegeben hatte, seinen Unmut über die Behinderung seiner Arbeit in der Sowjetunion kundzutun, hat sich in derselben Zeitung noch einmal zu Wort gemeldet. Er spricht von einem “Katz-und-Maus-Spiel mit der sowjetischen Botschaft“ und nennt es “ein brillantes Stück Theater“, einen ebenso cleveren, wie gefährlichen Schachzug im Kampf gegen die Bürokraten des sowjetischen Kulturministeriums zur Rettung des Taganka-Theaters.

Die ‘Times’ schreibt, mit der Drohung, im Westen zu bleiben, habe sich Lyubimov zwar der Gefahr ausgesetzt, gänzlich in Ungnade zu fallen; außerdem könnte die Affäre als Vorwand dienen, Andropovs Ansätze einer Liberalisierung der für die sowjetischen Künstler geltenden Regeln zurückzunehmen. Doch gebe es nun kaum noch einen Zweifel daran, daß Lyubimov sich mit seinen desperaten Äußerungen vor der westlichen Presse den künstlerischen Freiraum ertrotzen wolle, den er brauche und über den er bei seinen Gastinszenierungen als Opernregisseur in Mailand, München oder Neapel ganz selbstverständlich verfügen könne.

Die zwanzigjährige Geschichte des Taganka-Theaters stellt sich dar wie eine lange Geschichte des Kampfes um jenes Minimum an künstlerischer Freiheit. Das Theater erfreut sich beim Moskauer Publikum größter Beliebtheit; seine Inszenierungen gelten unter den herrschenden Bedingungen als ‘Avantgarde’ und zuweilen politisch kontrovers. Von Moskauer Korrespondenten hören wir, dies dürfe nicht zu dem Fehlschluß verleiten, daß die Arbeit des Theaters sich gegen die Regierung richte. Lyubimov scheint einen direkten Kontakt zu Andropov gehabt zu haben, der ihn freilich in letzter Zeit nicht vor den Nachstellungen des Kulturministeriums schützen konnte.

In dem am 5. September veröffentlichten Interview der ‘Times’ hatte Lyubimov erklärt: “Ich bin 65 Jahre alt und habe nicht die Zeit, darauf zu warten, bis die Bürokraten anfangen, eine Kultur zu verstehen, die meines Landes würdig wäre“. Und im Hinblick auf das Verbot der letzten Inszenierungen seines dadurch ernsthaft bedrohten Moskauer Theaters: “Ich habe eine Reihe von Werken geschaffen und halte sie für äußerst wichtig, sowohl für mich selbst, wie auch für das Theater, weil sie für mich die Erreichung eines neuen moralischen und ästhetischen Niveaus bedeuten. Diese Werke hat man verboten. Ich kann dies nicht hinnehmen ... Ohne diese drei Inszenierungen (ein Stück über den russischen Volkshelden Wladimir Vissotzki, ein satirisches Schauspiel mit dem Titel ‘Lebendig’ und eine Inszenierung von ‘Boris Godunov’) – ohne diese drei Inszenierungen können wir uns eine Weiterführung der Arbeit nicht vorstellen. Ich kann nicht zulassen, daß man mich in den Boden trampelt”.

Lyubimov bekennt sich zur russischen Tradition, die, wie er glaubt, durch die Revolution nicht unterbrochen wurde. In diese Tradition gehört natürlich auch Dostojewskis monumentales Werk ‘Schuld und Sühne’, das er in Moskau auf die Bühne brachte, wo es durch die Interpretation der Zentralfigur Raskolnikov, den die Aufführung als absolut verwerflichen Verbrecher zeigte, gegen die orthodoxe Auslegung der sowjetischen Literaturwissenschaftler verstieß. Die unter Lyubimovs Leitung in London erarbeitete englische Version seiner ‘Schuld-und-Sühne’-Inszenierung wurde von der britischen Kritik als eine der bedeutendsten Aufführungen seit Peter Brooks legendärem ‘Sommernachtstraum’ gefeiert.

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