die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1979
Text # 321
Autor Snoo Wilson
Theater
Titel Flaming Bodies
Ensemble/Spielort Institute for Contemporary Art (ICA)
Inszenierung/Regie John Ashford
Sendeinfo 1979.12.05/SWF Kultur aktuell/RB 1979.12.28/Darmstädter Echo

Snoo Wilson macht es seinem Publikum nicht leicht, noch weniger denen, die sich zur kritischen Prüfung seiner Stücke genötigt sehen. So nimmt es nicht Wunder, daß nahezu jeder Bericht über die Uraufführung eines Snoo-Wilson-Stückes mit dem Hinweis beginnt, Snoo Wilson mache es seinem Publikum nicht leicht, noch weniger denen, die über seine Stücke verständlich berichten sollen. Was dem Leser solcher Berichte als tautologischer Schnörkel erscheinen mag, bloßer Ausdruck der Verlegenheit eines Reporters, ist mehr als dies, nämlich der den Stücken durchaus gemäße Ansatz zu einer theoretischen Vermittlung von szenischen Gebilden, die auch von der Bühne herab trotz ihrer handfesten Theatralik zunächst so kryptisch, rätselhaft und unzugänglich erscheinen wie Traumgeschichten, die wir nicht entschlüsseln können, bis wir gewahr werden, daß sie einer anderen, einer paradoxen Logik folgen, auf die man sich zunächst einmal bedenkenlos einlassen muß wie auf ein Abenteuer, um etwas wie Sinn zu erschließen.

Das soeben im Theater des Londoner Instituts für zeitgenössische Kunst (ICA) uraufgeführte neue Stück von Snoo Wilson ‘Flaming Bodies’ (Flammende Körper) mutet dem Publikum an Mitspielbereitschaft wieder einmal mehr zu, als es gemeinhin zu geben bereit ist. Spielort ist das Büro einer Filmgesellschaft in Los Angeles. Mercedes, eine junge, fette, offenbar lesbische Jüdin, hat ihren Job verloren. Der ihr vorgesetzte Abteilungsleiter hat sich ihrer Idee zu einem Film bemächtigt, in dem uns bewiesen werden soll, daß der historische Jesus in Wirklichkeit eine Frau gewesen ist. Mercedes weigert sich, die Stellung zu räumen, verbarrikadiert sich in einem Hinterzimmer des Büros, um wie ein von Halluzinationen geplagtes Gespenst nachts umherzuirren, stets auf der Suche nach etwas Eßbaren, im erbitterten Kampf gegen Wahnvorstellungen, die sie in verwirrender Folge heimsuchen, bis auch das Publikum schließlich alles für möglich hält: Ein riesiger Chevrolet aus einer anderen Filmproduktion verirrt sich und kommt durchs Panoramafenster im 13. Stock geflogen, mit einem zerfetzten Stuntman an Bord und einer lesbischen Filmamazone mit grünen Haaren; der gewaltige Kühlschrank, Symbol der Freßlust, verschwindet geisterhaft und kehrt ebenso überraschend wieder zurück, verschluckt Menschen oder hebt als Weltraumrakete vom Boden ab; der Geist eines Toten schwebt wie Mary Poppins mit Regenschirm vor dem Fenster des Wolkenkratzers und führt Klage über die Diät der Himmlischen; der biblische König Herodes verrät seine Vorliebe für kleine Knaben; und Maria und Josef, beide schwanger und auf dem Weg nach Bethlehem, kommen auf einem aufblasbaren Esel ins Zimmer geritten.

Dazwischen versucht Mercedes, sich per Telefon psychotherapeutische Hilfe zu verschaffen und erklärt ihrer Mutter, daß sie zwar lesbisch sei, doch im übrigen völlig normal. Am Ende sieht es so aus, als wenn Mercedes sich wirklich von ihren fixen Ideen, die sie vor uns ausspielt, zu lösen beginne.

Auf seine sehr persönliche Weise gibt Wilson uns hier die differenzierte Charakterstudie eines weiblichen Wesens, das am Geist seiner Zeit erkrankt ist, seine Ängste und Zwangsvorstellungen allmählich durchschaut und dadurch frei wird. Da alle übrigen Rollen des Stückes von nur zwei Darstellern gespielt werden, die sich in John Ashfords Inszenierung mit atemberaubender Geschwindigkeit verwandeln, bleiben die surrealen Episoden deutlich auf die Zentralfigur bezogen, die sie als Wirklichkeit erlebt.

Snoo Wilsons Studien schizoider Charaktere wirken wie Ausflüge in bisher unbetretene Landschaften der Seele, die mit einemmal unendlich viel reicher und weiter erscheinen, als unsere Schulweisheit, die sich zumeist ans handgreiflich Unmittelbare hält, sich träumen ließ.

Nach Oben