die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1973
Text # 63
Autor David Storey
Theater
Titel The Farm
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Lindsay Anderson
Uraufführung
Sendeinfo 1973.09.22/SWF Kultur aktuell

Es ist sehr ungewöhnlich, daß ein Theater nacheinander die Uraufführung von zwei Stücken desselben Autors ankündigt. Nur sechs Wochen nach der Weltpremiere von ‘Cromwell’ brachte das Royal Court Theatre David Storeys Schauspiel ‘The Farm’. Diese ungewöhnliche Ehre gilt einem ungewöhnlichen Mann, der in sechs Jahren neben zwei Romanen nicht weniger als sieben Theaterstücke schrieb, die alle mit großem Erfolg am Royal Court uraufgeführt wurden (inzwischen hat der Autor ein achtes Stück vollendet).

David Storey, 1933 in Yorkshire als Sohn eines Bergarbeiters geboren, Maler, professioneller Rugbyspieler, Lehrer, Romancier, Drehbuchautor und Stückeschreiber, “einer der wenigen berühmten Dichter aus proletarischem Milieu seit D.H. Lawrence”, – David Storey steht heute auf der Höhe seines Könnens, und da ist kaum einer, der ihm das Wasser reichen könnte. David Storey, der alles Superlativische, Überschwengliche meidet, darf zurzeit als einer der bedeutendsten Bühnendichter der englischen Sprache gelten.

‘The Farm’ ist eine Familienstudie, das Stück (wie die besten O’Neills, an die es von fern erinnert) äußerlich nach den Regeln der klassischen Dramaturgie gebaut, nur mit dem wesentlichen Unterschied, daß es hier auf die Entwicklung der Fabel nicht eigentlich ankommt, vielmehr auf das Verhältnis der sieben Personen zueinander, ihre enttäuschten Hoffnungen und untergründigen Haß- und Angstkomplexe.

Ein alter Farmer lebt mit seiner Frau und drei erwachsenen Töchtern auf einem abgelegenen Hof. Der einzige Sohn, der vor Jahren fortzog, um zu studieren, und seither erfolglos umher driftet, kehrt überraschend zurück, um die Frau vorzustellen, die er heiraten will, eine ehemalige Schauspielerin, wesentlich älter als er, geschieden, mit zwei erwachsenen Kindern, mittellos. Der Schock, den diese Nachricht bei Eltern und Schwestern auslöst, veranlaßt die junge Frau, um die es geht, zum Rückzug und treibt den Sohn erneut aus dem Haus.

Was Storey schreibt, wirkt mehr als bei anderen Autoren erlebt, und dies nicht nur wegen der erkennbar autobiografischen Details. Es ist die Natürlichkeit, das Unaufwendige, die Bescheidenheit des Autors, die sich durch strikte Ökonomie der szenischen und sprachlichen Mittel ausdrückt, die Gelassenheit und innere Ruhe, die Fairness in der Darstellung, welche authentisch wirken.

Im Gegensatz zu Storeys ‘Cromwell’-Stück, das sich ideologiekritisch mit Krieg und Zerstörung befaßt und dagegen die Utopie einer Flucht in ein Land des Friedens entwirft, bringt ’The Farm’ nur die sorgsame Beobachtung einer familiären Situation, die für sich selbst steht, nicht bloß Modell ist für eine große Idee; einer Situation, die nichts Großartiges, Erhabenes an sich hat, doch wegen der Unauflösbarkeit des Konflikts, der Möglichkeit von Versöhnung der seelischen Gegensätze, tragisch wirkt.

Was dabei immer wieder fasziniert, ist Storeys erstaunliches Talent zur scheinbar ungebrochenen Wiedergabe von Erfahrenem. Es ist ein Realismus besonderer Art. Er hat die Überschärfe von manchen Arbeiten der bildenden Kunst, die mehr geben als bloß das fotografisch genaue Abbild einer Oberfläche.

Diese Überschärfe zeigt sich besonders in den herrlich ins Detail gearbeiteten Inszenierungen des Storey-Regisseurs Lindsay Anderson. Seine Uraufführung der Familienstudie ‘The Farm’ ist ein Meisterwerk moderner Schauspielregie, der es nicht um Befriedigung eitler szenischer Ambitionen, sondern vor allem um Menschen geht, die auch auf der Bühne menschlich erscheinen.

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