die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1971
Text # 22
Autor Pablo Picasso
Theater
Titel Four Little Girls
Ensemble/Spielort Open Space Theatre/London
Inszenierung/Regie Charles Marowitz
Uraufführung
Sendeinfo 1971.12.17/SWF/Kultur aktuell

Dem Open Space Theatre, Londons best angesehener Kellerbühne, und Charles Marowitz, ihrem künstlerischen Leiter, ist es wieder einmal gelungen, das Aufsehen zu erregen, das beide von Zeit zu Zeit brauchen, um die chronischen Krisen des ohne größere Subventionen stets am Rande des finanziellen Ruins schwebenden Theaters zu meistern. Uraufführungen machen Schlagzeilen, vor allem wenn es sich um das Werk eines Autors handelt, von dessen Genie heute jedes Schulkind weiß, den aber als Bühnendichter noch keiner kennt.

‘Four Little Girls’ (‘Vier kleine Mädchen’) von Pablo Picasso: Man war erstaunt, als man vor Jahren erfuhr, daß jener Picasso nicht nur gemalt, sondern auch ein Theaterstück geschrieben hatte mit dem hübschen Titel ‘Wie man Wünsche beim Schwanz packt’, ein surrealistisches, sehr poetisches Spiel der Phantasie. Die nun aufgetauchten ‘Vier kleinen Mädchen’, als zweites Bühnenwerk des Meisters 1947 verfaßt, gaben Charles Marowitz, dem der Text in die Hände fiel, die große Möglichkeit, eigene Wünsche am Schwanze zu packen. Das Ergebnis ist eine bilderbuchschöne, phantasievolle Inszenierung, die wie ein farbiger Traum vorüber zieht, ein Traum aus den Tiefen der Kindheit, des paradiesischen Anfangs vor dem Fall, dem die Vertreibung folgt.

Roland Penrose hat Picassos Spiel frei ins Englische übertragen, die surrealistische Bildersprache des Textes so vollkommen in die englische Sprachwelt überführt, daß das Exotische daran nicht mehr als das Fremde, sondern das tief innen verborgene Eigene in den kindlichen Seelen jener vier Mädchen sich darstellt, für die Phantasie noch so wirklich ist wie sie selbst, Träume noch unmittelbar wahr sind, weil man in ihnen lebt wie in verwunschenen Märchenschlössern, sehnsüchtig wartend, ahnungsvoll, ohne zu wissen worauf.

Marowitz hat den gesamten Innenraum des Open-Space-Theaters in einen ländlichen Hof verwandeln lassen, in dem ein alter Ziehbrunnen steht, malerisch, naiv, im Hintergrund eine bunte Hütte, ein Stück Zaun, darüber ein Gewirr von Fäden und Bändern, das diese kleine Welt wie ein großes Spinngewebe umgibt. Das Publikum muß sich auf matratzenartig weichen Heubergen niederlassen, die vom Innenhof aus nach den Wänden zu ansteigen.

Eine Gruppe von elf- bis dreizehnjährigen Mädchen spielt tanzend und singend um den Brunnen. Ihre Sprache ist die Sprache der Kinderverse und Abzählreime, die ohne logischen Bezug auf objektive Gegebenheiten nur für sich selbst besteht, wo Worte nicht Namen für Sachen, sondern noch geheimnisvoll tönende Chiffren sind, jedes einzelne eine eigene kleine Welt. Man kann damit spielen wie mit Bällen. Puppen sind lebendige Wesen, man kann sie liebkosen und in den Armen wiegen - oder schlagen, foltern und grausam töten. Wie Menschen. Das Spiel wechselt von übermächtiger Heiterkeit in Trauer, von Haß in Liebe, von Liebe in Zorn. Das Leben ist ein schwankendes Meer aus Staniolpapier, ein dickleibiges Buch, in dem sich unendlich sinnlos immer wieder dieselben Worte finden: Leben, Liebe und Tod.

Marowitz ist eine musikalisch und optisch durchkomponierte Inszenierung gelungen, deren besondere Qualität es ist, die kindhafte Unbefangenheit, den natürlichen Zauber, die Naivität sehr junger Mädchen bewahrt und die Abgründe ihrer Gefühlswelt in Bildern unmittelbar verständlich gemacht zu haben.

Man wird davon ausgehen müssen, daß der Erfolg der ‘Vier kleinen Mädchen’, weil er sich dem Glücksfall einer Inszenierung verdankt und darauf angewiesen ist, sich andernorts kaum wiederholen wird.

 

Nach Oben